Der Auftakt

James Earl Russell war ein anderer Student Wundts, der seine Doktorwürde 1894 in Leipzig erworben hatte. Russell kam im Oktober 1897 an die Columbia Universität, nur fünf Jahre, nachdem das New York College für Lehrerbildung seine permanente Zulassung erhalten hatte. Von seiner Position als Vorstand des Department of Psychology and General Method leitete Russell die zentrale Abteilung der Lehrerbildungsanstalt. Im gleichen Jahr wurde er Vorstand des College. Er leitete es für die folgenden dreißig Jahre, in denen er die größte Bildungsstätte der Erde für Lehrer aufbaute 32).

1897 war die Bühne bereitet für die rasche Ausbreitung der Deutschen Psychologie in den Vereinigten Staaten. In enger Zusammenarbeit mit Cattell verpflichtete Russell eine Fakultät, die Psychologie weiter mit Erziehung verschmelzen konnte. Einer seiner ersten Erwählten war Frank McMurry, welcher ebenfalls in Leipzig Psychologie studiert hatte:

    Tätig in der National Educational Association und der National Society for the Scientific Study of Education, deren leitender Sekretär sein Bruder Charles McMurry war, zog er (Frank McMurry) bald die Aufmerksamkeit James Russells auf sich. Daraus ergab sich, daß er im Herbst 1898 der Fakultät des Teachers College beitrat . . . Seine eigenen Studien der Prinzipien der Methode (des John Dewey, d. A.) mündeten 1907 in sein Buch: How to Study and Teaching How to Study (Wie man lernt und Lernen lehrt), welches von vielen Abhandlungen über das gleiche Thema gefolgt wurde. Sein Grundinteresse reichte auch in das Curriculum der Elementarschule; seine Lehre und seine Schriften auf diesem Gebiet etablierten ihn bald als Pionier moderner progressiver Erziehungstheorie 33).

Es war jedoch die Anstellung eines anderen Adepten durch Russell, die dazu führte, daß das Teachers College das Bindeglied zur Infusion einer fatalen Dosis Deutscher Psychologie in die Schlagader amerikanischer Erziehung wurde. Edward Lee Thorndike wurde von der ersten Generation Wundtscher Schützlinge in Psychologie ausgebildet. Thorndike promovierte 1895 an der Wesleyan Universität, nachdem er bei den Wundtianern Armstrong und Judd studiert hatte. Er ging dann nach Harvard, um beim letzten großen amerikanischen Psychologen (alte Definition des Begriffes) William James zu studieren. Während seiner Zeit in Harvard setzte er James mit seinen Forschungen an Hühnern in Erstaunen, mit denen er die Instinkte und das intelligente Verhalten der Tiere untersuchte und damit Pionier dessen war, was später als „Tierpsychologie" bekannt wurde:

    Wie Thorndike selbst kurz formulierte, war Psychologie die Wissenschaft des Intellekts, Charakters und des Verhaltens von Tieren, einschließlich des Menschen 34).

Thorndike bewarb sich um ein Stipendium an Columbia, wurde von Cattell angenommen und siedelte mit seinen beiden intelligentesten Hühnern nach New York, wo er seine Forschungen fortführte und 1898 sein Doktorat in Philosophie erwarb 35). Thorndikes Spezialität war die „Rätselkiste", in die er verschiedene Tiere (Hühner, Ratten, Katzen) steckte und sie selbst den Ausgang finden ließ. Seine Dissertation über Katzen wurde Teil der klassischen Psychologie-Literatur.

Nach seiner Habilitation verbrachte er ein Jahr als Erziehungslehrer an der Western Reserve Universität, es dauerte aber nicht lange, bis Cattell den Dekan Russell anwies, Thorndikes erste Klasse in Western Reserve zu besuchen:

    Obwohl der Dekan ihn „mit der Untersuchung von Mäusen und Affen" antraf, ging er „befriedigt darüber weg, daß er wert war, an Menschen zu versuchen” 36).

Russell bot Thorndike einen Posten am Teachers College an, wo der Experimentator für die nächsten dreißig Jahre blieb.

Thorndike war der erste Psychologe, der Tierverhalten in einem Experimentalpsychologie-Laboratorium studiert haue und, der Empfehlung Cattells Folge leistend, die gleichen Verfahren an Kindern und Jugendlichen anwandte. Als Ergebnis .veröffentlichte er 1903 das Buch Educational Psychology und in den folgenden Jahren die Summe von 507 Büchern, Monographien und Artikeln auf seinem Gebiete 37).

Tierpsychologie im Klassenzimmer

Thorndikes Ausgangshaltung war die gleiche wie die von Wundt: daß der Mensch ein Tier sei, daß seine Handlungen Reaktionen seien und daß er im Laboratorium mit sehr ähnlichen Resultaten und in sehr ähnlicher Weise wie ein Tier studiert werden kann. Demzufolge setzte Thorndike Kinder den Ratten, Affen, Fischen, Katzen und Hühnern, mit denen er in seinem Laboratorium experimentierte, gleich. Wenn er im Laboratorium etwas greifbares oder quantifizierbares über die Intelligenz und die Lernrate der Tiere herausgefunden hatte, war er bereit, es am Lernen im Klassenzimmer anzuwenden. Aus seinem Forschen schloß er auf tierische Verhaltens-„Gesetze", die er dann auf die Ausbildung von Lehrern anwandte. Diese trugen dann das so Gelernte in jede Ecke der USA und führten ihre Klassen, Lehrpläne und Schulen auf der Basis der neuen „Erziehungs"- Psychologie.

Thorndike brachte Wundt einen Riesenschritt weiter. In The Principles of Teaching based an Psychology (1906) setzte Thorndike sich das Ziel, das „Studium des Lehrens wissenschaftlich und angewandt" zu machen. Das ist seine Definition der Kunst des Lehrens:

    ... die Kunst, Stimuli (Reize, d. Ü) zu geben und vorzuenthalten mit dem Ergebnis, bestimmte Reaktionen zu erzeugen oder zu vermeiden. In dieser Definition ist der Terminus Stimulus weitläufig für jeden Vorgang, der eine Person beeinflussen kann, verwendet — für ein an sie gerichtetes Wort, einen Blick, einen Satz, den sie liest, die Luft, die sie atmet etc. usw. Der Terminus Reaktion bezeichnet jede seiner Erwiderungen, — einen neuen Gedanken, ein Gefühl des Interesses, eine körperliche Handlung, jede mentale oder körperliche Kondition, die auf den Reiz zurückgeht. Das Streben des Lehrers ist darauf gerichtet, erwünschte Veränderungen im menschlichen Wesen zu erzeugen und unerwünschte zu verhindern, indem gewisse Reaktionen erzeugt oder verhindert werden. Die Mittel zur Verfügung des Lehrers sind die Reize, die beim Schüler zum Tragen gebracht werden können — die Worte des Lehrers, seine Gesten, seine Erscheinung und die Einrichtung des Unterrichtsraumes, die verwendeten Bücher und die sichtbaren Objekte, und so weiter eine lange Liste von Dingen und Ereignissen, die der Lehrer beeinflussen kann 38).

Hier finden wir wieder Wundt, aber in Amerika, nicht in Leipzig und nicht im Unterricht von Kindern aus Kaiser Wilhelms Tagen, sondern der Lehrer unserer Kinder. Hier haben wir die Ursprünge des Konditionierens und die Werkzeuge der Verhaltenspsychologen, der Watsons und Skinners. Thorndike baute die Konditionierung auf dem von ihm sogenannten „Gesetz des Effekts" auf, welches besagte, daß jene Handlungen und Verhalten, die zur Befriedigung rührten, dem Kind aufgedrückt oder eingeprägt werden, und jene mit unbefriedigenden Ergebnissen würden ausgemerzt werden. Der einzige Weg, eine „gute" Reaktion des Kindes zu bestärken, sei demzufolge, sie zu unterstützen und der einzige Weg, eine „schlechte" Reaktion des Kindes auszuschalten, ist, sie zu verwehren.

Das schafft für den Erzieher bestimmte Probleme. Sollte das Kind zum Beispiel sein Einmaleins nicht lernen wollen, müßte der Lehrer Mittel und Wege finden, das Einmaleins erfreulich und lohnend zu machen, oder das Kind würde einfach nicht lernen; ähnlich müßte das Kind durch Entzug von Vergnügen erzogen werden, daß solches „Verhalten" unerwünscht war, wenn es z. B. sich daran erfreute, seinen Klassenkameraden Bleistifte nachzuwerfen. Dieses Gedankengut hat über die Jahre eine Gesellschaft hervorgebracht, die mehr auf der Grundlage der Befriedigung operiert als auf der Grundlage von Vernunft und Verantwortlichkeit. Die Kinder erwarten, Erfreuliches und Erwünschtes zu bekommen, weil sie in der Schule gelernt haben, daß erfreuliches gut ist und unerfreuliches nicht gut ist. Das ist das Erbe der Reiz-Reaktions-Methodik des Unterrichtens, die in diesem Land (den USA, d. Ü.) von E. L. Thorndike entwickelt und an tausende von Lehrern vermittels des Mediums „Erziehungspsychologie" weitergegeben worden war.

Was ist für Thorndike der Zweck der Erziehung?

    Erziehung ist primär in der allgemeinen Interrelation des Menschen mit seiner Umwelt mit all den Veränderungen, die eine Anpassung der menschlichen Natur an seine Umgebung ermöglicht, interessiert 39).

Dies ist die beharrliche Betrachtung, wie sie von Dewey und anderen ausgedrückt wurde: der Mensch sei ein soziales Tier und müßte sich seiner Umgebung anpassen, anstatt die Umgebung zu verbessern, damit sie seinen Bedürfnissen und denen der Gesellschaft gerecht werde. Im Überschneidungsfeld der Betrachtung Thorndikes und Deweys machten Individualismus und das Wachstum individueller Fähigkeiten und Unterschiede dem reibungslosen Übergang in eine soziale Konformität und Anpassung Platz. Das Produkt der Erziehung wurde — nicht Fertigkeiten — sondern „gut angepaßte" Kinder.

Thorndike hatte auch sehr eigene Betrachtungen der Erziehung in den Grundfächern Lesen, Schreiben und Rechnen:

    Studien der Fähigkeiten und des Interesses junger Kinder zeigen den Rat an, vor dem Alter von sechs Jahren viel Aufmerksamkeit weder auf das Erwerben jener wesentlichen Werkzeuge genannten intellektuellen Fertigkeiten — Lesen, Buchstabieren, Rechnen, Schreiben, — noch auf abstrakte intellektuelle Analysen zu legen. 40).

    Trotz schnellen Fortschrittes in die erwünschte Richtung, ist das Programm der durchschnittlichen Elementarschule zu begrenzt und zu sehr akademischen Charakters. Traditionell war die Grundschule primär der Unterrichtung in grundlegenden Gegenständen — Lesen, Schreiben, Rechnen — und verwandten Disziplinen gewidmet ... Künstliche Anleitung wie Übungen zur Lautbildung, des Einmaleins' oder formaler Schreibbewegungen werden in verschwenderischem Maß angewandt. Gegenstände wie Arithmetik, Sprache und Geschichte haben Inhalte von eigentlich sehr geringem Wert. Nahezu jeder Gegenstand ist unklug ausgeweitet, um das akademische Ideal der Gründlichkeit zu befriedigen. Daß die typische Schule die Unterrichtung in diesen formalen, akademischen Fertigkeiten als Mittel zur Förderung intellektueller Anlagen übertreibe, ... ist berechtigte Kritik ... Aussonderung von Unwesentlichem durch wissenschaftliches Studium ist daher ein Schritt zur Verbesserung des Lehrplanes 41).

Thorndike stimmte hier in den Ruf der Psychologen ein, daß die traditionellen Lehrpläne radikal entsprechend den Prinzipien der Psychologie geändert werden müßten, und unterstützte ihn. Neben der Ab-Wertung des Studiums erzieherischer Grundlagen legte er fest, was er als die drei Hauptfunktionen der Grundschule ansah:

    (1) Für jedes Kind sechs Jahre der Erfahrung zu bereiten, die darauf ausgerichtet sind, ihm zu ermöglichen, auf jedem Schritt dieser Periode Anpassungen auf die wichtigste Phase des Lebens zu vollziehen .. . Diese grundsätzliche Erziehung jedem Kind anzupassen erfordert einen beachtlichen Grad der Spezialisierung in Übereinstimmung mit individuellen Unterschieden. Die Grundschule hat folglich eine zweite Funktion, nämlich

    (2) angeborene intellektuelle Fähigkeiten, die physischen, emotionalen, temperamentmäßigen, erholungsmäßigen, ästhetischen und anderen Anlagen des Kindes so exakt wie möglich zu erfassen. Weil manche Schüler es notwendig oder ratsam ansehen werden, in der Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts einen Beruf zu ergreifen, ist eine dritte Funktion in gewissem Grad essentiell, nämlich

    (3) die beruflichen Interessen und Anlagen zu ergründen und einige Mittel der beruflichen Anpassung für jene bereitzustellen, die die Schule mit dem frühesten gesetzlich erlaubten Alter verlassen 42).

Auch hier haben wir eine bemerkenswerte Wandlung des traditionellen amerikanischen Erziehungswesens. Betrachten wir jede der drei oben angeführten Funktionen. Thorndikes Betrachtung der Anpassung wurde bereits erwähnt: sein Blickwinkel beruht auf Erziehung als Erfahrung, nicht auf Entwicklung von Fertigkeiten, die Werte und Individualität eröffnen. Das Kind, ähnlich dem Tier, ist, abgestimmt auf die Art und den Zustand seines Gehirns und Nervensystems, was es erlebt hat. Wenn das Nervensystem in guter Verfassung ist, wird das Kind in der Lage sein, ihm angebotene Reize angemessen zu nützen und auf sie angepaßt zu reagieren. Natürlich ist die Natur der in den frühesten Jahren der Kindheit angebotenen Reize am wichtigsten, weil sie den zukünftigen Charakter und die zukünftige Persönlichkeit am meisten beeinflussen. Das ist der introspektive, mechanistische, verwickelte Blickpunkt, daß Kinder Reiz-Reaktions-Tiere mit einem festgelegten Intelligenzniveau seien. Sie sollten die korrekten Reize und Erfahrungen erhalten, verstärkt durch die Manipulation von Vergnügungen.

Einige schaffen es halt nicht

Unglücklicherweise konnte trotz sorgfältiger Kontrolle von Reizen und der Konditionierung des Verhaltens etwas schief gehen. Der weiter bestehende Unterschied in der individuellen Lernrate und den Fähigkeiten — obwohl die Summe der Reize für eine Anzahl Kinder theoretisch gleich war — deutete darauf hin, daß etwas ureigen unterschiedlich an Kindern sein mußte. Das bringt uns zur Bedeutung psychologischer Tests. Um festzustellen, was die Unterschiede genau sind, testet man ein Kind regelmäßig und sorgfältig, um die spezifische Lern-Unfähigkeit und Lern-Mängel herauszufinden. Thorndikes diesbezüglicher Blickpunkt ruht auf der Annahme, daß Intelligenz eine gegebene Angelegenheit sei, die schon vor Eintritt in die Schule festgelegt ist 43). Es ist ein einfacher Schluß und er befreit die Erzieher davon, Verantwortung für jene Kinder zu übernehmen, die nicht lernen. Schließlich ist es Beweis genug, daß der Lehrer korrekt unterrichtet, wenn die Hälfte der Klasse lernt. Daß die andere Hälfte nicht lernt, ist nicht die Schuld des Lehrers, weil diese Hälfte hörte, was die andere Hälfte hörte und dieselben Reize erfuhr. Nein — etwas mußte mit der zweiten Hälfte nicht in Ordnung sein und psychologische Tests würden zeigen, was. Vor 1900 war die Probe, ob ein Lehrer ein guter Lehrer war, die Frage, ob seine Schüler ihren Stoff beherrschten. Mit der Ausbreitung von Schülertests wurden die oben erwähnten Lehrnormen nicht-existent und nicht qualifizierbar, weil sie von Variablen im Nervensystem der Kinder abhingen, und daher außerhalb der Kontrolle des Lehrers lagen.

Das Unvermögen mancher Kinder, zu lernen, bringt uns zu Thorndikes drittem Punkt. Einige schaffen es halt nicht, stellte er fest, und es ist besser, durch erzieherische Tests früh genug festzustellen, wer sie sind, damit sie rechtzeitig ausgesondert und einer beruflichen Ausbildung zugeführt werden konnten, bevor es zu spät war. Schlußendlich reflektierte Thorndike hier wieder eine Synthese der psychologischen Gesichtspunkte Wundts und der sozialistischen Betrachtungen Deweys:

    Wenn alle Tatsachen berücksichtigt werden, wird sich herausstellen, so glauben wir, daß das beste Interesse des Individuums und der Gemeinschaft gewährt ist, wenn eine gewisse Zahl intelligenzmißig am wenigsten begabter Schüler mir der Ausrüstung versehen wird, um ihre berufliche Laufbahn bei Abschluß der Pflichtschule oder in wenigen Fällen schon früher beginnen zu können. Andere werden ihr Wohlergehen und das der Gesellschaft durch ein weiteres Jahr, andere durch zwei und wieder andere durch drei zusätzliche Jahre fördern. Obwohl die große Mehrzahl der Kinder einige Zeit in der Mittelschule verbringen sollte, sollte man nicht erwarten, daß alle von ihnen bis zur Reifeprüfung kommen. Jedes Kind sollte so viel höhere Schulbildung erhalten, wie das Gemeinwohl es verlangt" 44).

Zusammenfassend stellt sich dar: ein deutscher Psychologe war der Überzeugung, daß Menschen Tiere seien und daß sie verstanden werden könnten, indem man ihre Erfahrungen analysiert. Seine Prämissen und Methoden sind in ein im Wachstum begriffenes Erziehungssystem der USA importiert und an Lehrer, Berater und Schulverwalter im ganzen Land verbreitet worden. Innerhalb weniger Generationen treibt die Jugendkriminalität Auswüchse, Analphabeten strömen aus den Schulen, Lehrer lernen nicht mehr, zu unterrichten und Generation für Generation Erwachsener, selbst um gute Erziehung betrogen, wundert sich, ob es eine Lösung für den Sumpf „moderner" Erziehung gibt.

Geld wie Heu

Hunderte Milionen Dollar waren nötig, um die Erziehung in jener Zeit umzukrempeln. Woher kam das Geld, das diese Epidemie nährte? Wie war es ausgegeben worden? Wie vereinte sich die Hauptströmung Deutscher Psychologie mit dem Hauptstrom der Millionen?

Die Antwort ist, zugegebenermaßen, geeignet, einen sich ausgesprochen paranoid fühlen zu lassen. Die Neue Deutsche Psychologie zapfte die reichste Ader amerikanischen Reichtums und amerikanischer Menschenfreundlichkeit an und gewann nahezu unbegrenzte Mittel zu ihrer Unterstützung. Hier waren ihre Laboratorien, neuen Gebäude, ihre Ausstattungen, ihre Publikationen, ihre Forschungsstätten, Transportmittel, Gehälter — das erforderliche um wie ein Lauffeuer durch die amerikanische Erziehung zu rasen.

Die Schecks für diese Expansion kamen nicht aus dem Hauptquartier des Teachers College in Morningside Heights, sondern aus dem Hause Broadway 26, gerade um die Ecke vom finanziellen Mittelpunkt der Weit, auf der Walistreet.

Broadway 26 war die beste Geschäftsadresse des Landes, vielleicht der Welt. Es war der Sitz der Standard Oil Company, im Eigentum und geführt von John D. Rockefeller senior. Die Geschichte, wie die Rockefeller-Millionen mit der Ausbreitung der Deutschen Psychologie verwoben wurden, wie das Vermögen des größten Öl-Monopols in der Umwälzung der amerikanischen Erziehung Verwendung fand, umspannt etwa 40 Jahre und beginnt mit Rockefeller selbst.

Wie jedem Schulkind bekannt war, hatte Rockefeller das größte Monopol seiner Zeit geschaffen. Er begann 1863 im Ölgeschäft und hatte 1880 schon Kontrolle über 95% der nationalen Ölproduktion. Er kontrollierte die Ölbohrungen, den Transport von Rohöl und Raffinerieprodukten durch ein verschlungenes System von Tankwagen, die Raffinerien und die Preise. Er sabotierte seine Konkurrenten, heuerte Spione an, um die Geschäfte seiner Gegner zu infiltrieren und drückte freie Unternehmer mittels sorgfältig ausgeklügelter geheimer Verträge aus dem Geschäft. 1910, als man ein Glas Bier für einen Cent kaufen konnte und ein Laib Brot für weniger als einen Zehner zu haben war, als eine drei-Zimmer-Wohnung für fünf Dollar im Monat zu mieten war und ein Paar guter Schuhe einen Dollar kostete, hatte Rockefeller ein Vermögen von über 800 Millionen Dollar (das entspricht in der heutigen Kaufkraft ungefähr 5 bis 10 Milliarden Dollar) 45).

Rockefeller liebte es, Geld zu verdienen. Man zitiert, er habe mit 41 gesagt „ich habe Wege, Geld zu machen, von denen ihr nichts wisst 46) und schrieb seine Fähigkeit, Geld zu scheffeln, einem Geschenk Gottes zu:

    Ich glaube, daß die Gabe, Geld zu machen, eine Gabe Gottes ist — geradeso wie der Instinkt für Kunst, Musik, Literatur, das Talent des Arztes, sein eigenes Talent — um nach unserem besten Können und zum Wohl der Menschheit entwickelt zu werden. Mit der Gabe, die ich besitze, versehen worden, glaube ich mich verpflichtet, immer mehr Geld zu machen und es zum Wohl meines Nächsten nach Maßgabe meines Gewissens auszugeben. 47).

Und Geld gemacht hat er, auf jede nur mögliche Weise, aber mit wenig Rücksicht auf „Gewissen". Er wurde einer der meistgehaßten Männer im Land:

    Es war mehr als dreißig Jahre, nachdem er seine Karriere begonnen hatte, da war Rockefeller die zentrale Figur des spektakulärsten Erfolges in der Geschichte der Wirtschaft. „Standard" war außer Frage die mächtigste Industrieorganisation der Nation und das sichtbarste Symbol der wachsenden amerikanischen Macht. Aber der Preis dafür war für Rockefeller persönlich hoch: er war identifiziert worden mit all den Auswüchsen, die Standard auf dem Weg zur Macht entwickelt hatte; Haß hing an ihm wie Eisenspäne an einem Magneten . . . Rockefeller hatte seinen Leviathan mit völliger Hingabe gepflegt. Aher jetzt fand er sich auf dessen Rücken gefesselt wie Ahab und in gleicher Gefahr, für immer herabgenornmen zu wenden 48).

Rockefeller war in der öffentlichen Meinung „die Haut abgezogen" worden und er war Zielobjekt zahlreicher Untersuchungskomitees, die versuchten, ihn wegen seiner Geschäftsgebarung festzunageln. Sein Vermögen und Besitz wuchsen schneller, als er sie kontrollieren oder schützen konnte. Er brauchte einen spezialisierten Assistenten, der sein öffentliches Ansehen aufpolierte und gleichzeitig als Axtführer in der Konsolidierung seines weitgefächerten Geschäfts-Imperiums agieren konnte. So einen Mann fand er in Frederick Taylor Gates.

Rockefeller, ein Baptist, hatte über die Jahre den Baptisten Geldsummen für gute Zwecke zur Verfügung gestellt. In den späten 80er-Jahren fühlte sich der Kirchenrat schon mutig genug, Rockefeller aufzufordern, den Neubau der Universität von Chicago — einer Baptistenschule, die ursprünglich 1856 als das Morgan Park Theological Seminary gegründet worden war — zu finanzieren.

Nachdem Rockefeller dem Wunsch stattgab, wurde er mit dem Umbau der Universität eng verbunden und gab die riesige Summe von 600 000 Dollar. Während seiner Beschäftigung mit der Universität war es, daß er Gates kennenlernte, einen Geistlichen der Baptistenkirche, der zuvor für George A. Pillburg, Begründer des Mehlvermögens, gearbeitet hatte und dessen letzte Wohltätigkeiten vor seinem Tod verwaltet hatte 49).

Bilder

  • Wilhelm Maximilian Wundt, 16.8.1832 - 31.8.1920, deutscher Philosoph und Psychologe
  • Die Leipziger Universität, die Alma Maler Lipsiensis, wurde 1409 von aus Prag emigrierten Dozenten und Studenten gegründet. Neben der Universität die Paulinerkirche
  • Edward L. Thorndike, 31.8.1874 - 10.8.1949, amerikanischer Philosoph und Psychologe
    „Gegenstände wie Arithmetik, Sprache und Geschichte eingeschlossen beinhalten eigentlich, daß sie von geringem Wert sind."
  • John Dewey, 20.10.1859 - 2.6.1952, amerikanischer Philosoph und Erzieher
    “Das grundlegende Problem aller Erziehung ist die Koordination psychologischer und sozialer Faktoren ..."
  • John D. Rockefeller sen., 8.7.1839 - 23.5.1937, amerikanischer Industrieller
    „Ich glaube, die Macht Geld zu machen, ist ein Geschenk Gottes."
  • David Rockefeller jr.
    „Ich war in der einmaligen Lage. Ich konnte mit Vater im strategisch günstigen Moment reden."

Die Mission des Fred Gates

Rockefeller war von Gates beeindruckt, von seiner Gewandtheit und der Art, wie er finanzielle Angelegenheiten anging. Ständig mit Wünschen um Geld bedrängt, bot Rockefeller Gates an, für ihn zu arbeiten und die Mühen der Wohltätigkeit von seinen Schultern zu nehmen. Gates erledigte bald alle Anfragen um Rockefeller-Summen und tat alles in seiner Macht stehende, um das Ansehen Rockefellers aufzupolieren. Nebenbei organisierte er Rockefellers persönliche Investitionen, sicherte Rockefellers Eigentum an der großen Mesabi-Erzstätte in Minnesota, die 60% des nationalen Eisenbedarfs deckte, kaufte Aktionäre in Schwierigkeiten von persönlichen Anteilen aus und stieß unprofitable Beteiligungen aus dem Rockefeller-Portefeuille ab.

Gates erregte sich über den Umfang von Rockefellers finanziellen Beteiligungen und die Bedrohung, die sie für Rockefeller darstellten: „Ihr Vermögen ballt sich zusammen wie eine Lawine! Sie müssen es schneller verteilen, als es wächst! Wenn Sie das nicht tun, wird es Sie zerdrücken, Sie, Ihre Kinder und die Kinder Ihrer Kinder!" 50) Gates entsann sich später so:

    Ich bangte, als ich der unvernünftigen Ablehnung des Reichtums von Mr. Rockefeller durch das Volk gewahr wurde, der für die Mehrheit der Leute eine nationale Bedrohung darstellte. Doch es war nicht das unvernünftige Vorurteil des Volkes gegenüber seinem riesigen Vermögen, das mich hauptsächlich besorgte. Sollte es an seine Nachkommen in der Art anderer großer Vermögen durch ihre Inhaber weitergegeben werden mit all den skandalösen Auswirkungen auf die Nachkommen und den starken Tendenzen zu sozialer Demoralisierung? Ich sah keinen anderen Weg für Mr. Rockefeller und seinen Sohn, als eine Reihe großer Wohltätigkeitskorporationen zu bilden, um die Zivilisation in all ihren Elementen in diesem Land und allen Ländern zu fördern; Wohltätigkeiten, wenn möglich unbeschränkt in Zeit und Umfang, breit in der Ausdehnung und selbstperpetuierend" 51).

Wenn groß angelegte Wohltätigkeit die Lösung war, dann gab es in den Augen des großen Monopolisten Rockefeller nur einen Weg, das Geschäft, welches er „die schwierigste Kunst des Schenkens" nannte, anzugehen:

    Wenn im Geschäftsleben eine Kombination, die Verschwendung ausschließt und bessere Resultate erbringt, erfolgreich ist, ist dann diese Kombination nicht viel wichtiger in der Wohltätigkeit? 52)

Der Schlachtplan war einfach. Hier war all das Rockefeller-Geld und Mr. Rockefeller, ständig geplagt, untersucht und vor Gericht gezerrt. Die Lösung schien ein Monopol der Wohltätigkeit, in welchem große Summen aus dem Vermögen Rockefellers und anderer Industriebarone gesammelt und so verteilt würden, daß Herrn Rockefeller der Respekt und die Bewunderung jener Gesellschaftselemente garantiert würde, die ihm am meisten zusetzten. Mit anderen Worten — es war Zeit, das Geld sauber zu machen.

Die Gründung und Finanzierung der Universität von Chicago hat viel getan, um Rockefellers Ansehen in Baptisten-kreisen und bei vielen Erziehern zu etablieren. Erzieherische Wohltätigkeit, die sich in guter Publicity bezahlt machte, konnte der einzuschlagende Weg sein. Die einzige Schwierigkeit dabei war, daß Erziehung, als Ganzes gesehen, nicht in schlechter Verfassung war. Das einheimische amerikanische Erziehungssystem war tief verwurzelt im Glauben und in den Praktiken der Puritanischen Väter, der Quäker, der frühen amerikanischen Patrioten und Philosophen. Jefferson hatte das aufrecht erhalten, um die Freiheit in der Nation zu bewahren — es war wichtig, daß ihre Bürger gebildet waren, unabhängig von ihrem Einkommen. Im ganzen Land waren fast unmittelbar nach der Kolonisation neuer Landstriche Schulen eingerichtet worden. Hervorragende Schulsysteme waren von den Quäkern in Pennsylvanien und im Mittelwesten errichtet worden. Die Freie-Schule-Bewegung in New York unter der Ägide DeWitt Clintons und Horace Manns war in der Blüte. Eine große Zahl „Norm-Schulen" (so genannt wegen ihre Rolle, die sie für Normen und Standards in der Erziehung spielten), brachten Jahr für Jahr tausende ausgebildete Lehrer heraus. Wichtige Universitäten waren früh in der Geschichte des Landes errichtet worden und brachten wohlbelesene und gut gebildete Menschen hervor, die die Führer unserer Nation werden sollten" 53).

Die erzieherischen Ergebnisse jener Schulen übertrafen bei weitem die der modernen Schulen. Man braucht nur die alten Debatten in den Congressional Records nachzulesen oder die Bücher, die in den 1800-er-Jahren publiziert worden sind, um zu erkennen, daß unsere Vorfahren die Sprache weit besser beherrschten als wir. Die Schüler lernten lesen — nicht Comic-Hefte, sondern die Werke von Burke, Webster, Lincoln, Horace, Cicero. Ihre Schwierigkeiten mit der Grammatik waren aus der Welt geschafft, lange bevor sie die Schule verließen, die Prüfung eines gewöhnlichen vor 1900 gedruckten Rechenbuches Für Grundschulen zeigt auf dramatische Weise, daß jene Schüler rechnerische Fertigkeiten erlernten, von denen die Mittelschüler unserer Tage nichts wissen. Der Absolvent einer allgemein bildenden höheren Schule jener Tage war ein gebildeter Mensch, der fließend seine Sprache beherrschte, seine Geschichte, seine Kultur, und der über die Fertigkeiten verfügte, die man zum Bestehen im Leben brauchte.

Außer im ländlichen Süden.

Der Erziehungs-Trust 

Der Süden war vorn Bürgerkrieg zerrissen worden und durchlief eine Periode des Wiederaufbaues, in der traditionelle Werte und Einrichtungen starken Wandlungen unterworfen waren. In den ländlichen Gegenden existierten nur wenige Schulen, selbst für weiße Kinder, wie viel weniger für Kinder der erst kürzlich befreiten Sklaven. Hier im Süden war es, daß Gates einen Träger für die Durchführung seiner Pläne fand.

Im Wiederaufbau und in der Entwicklung des ländlichen Erziehungssystems des Südens war schon einige Arbeit geleistet worden. Die Peabody- und Slater-Fonds waren in der Finanzierung von Neger-Schulen schon lange eingesetzt, die Tuskegee- und Hampton-Institute eröffneten Neger-Kindern die Vorteile industrieller Erziehung, um sie auf ihre zukünftige Tätigkeit in Industrie und Landwirtschaft auszubilden. Einer der Führer der Erziehung im Süden war Robert C. Ogden, ein Geschäftsmann aus dem Norden, der zur Gründung des Hampton-Institutes beigetragen hatte. Besorgt um den Zustand ländlicher Erziehung im Süden rief er eine Reihe jährlicher Konferenzen über Erziehung ins Leben und organisierte einen Sonderzug, um prominente Damen und Herren auf eine große Tournee durch die Schulen des Südens zu schicken 54).

John D. Rockefeller junior war dabei. Bei seiner Rückkehr traf der Junge begeistert mit Gates zusammen, um ihm vorzuschlagen, daß die Wohltätigkeit seines Vaters auf die Erziehung im Süden gerichtet werde. Für den Jungen, der nur vier Jahre am Broadway 26 tätig gewesen war, war das ein Gebiet, das seiner Fähigkeiten wert war. Er besprach seine Vorstellungen mit seinem Vater und Dr. Wallace Buttrick, Sekretär der Baptisten-Hausmission-Gesellschaft und ein Mann, der in den kommenden Jahren beachtlichen Einfluß auf die Erziehung nehmen sollte. Der junge Rockefeller spielte selbst eine zentrale Rolle in der Verbindung Rockefeller-Gates. Er stellt es so dar:

    Gates war der brillante Träumer und Schöpfer. Ich war der Kaufmann — der beim Vater im richtigen Moment einsprang. Gates und ich waren Vaters Leutnants, jeder mit einer eigenen Aufgabe, aber in perfektem Zusammenspiel. Gates sorgte für das schwierige Denken, während es meine Aufgabe war, diese Ideen dem Vater zu verkaufen. Natürlich war ich in einmaliger Position. Ich konnte mit Vater zum strategisch richtigen Zeitpunkt sprechen. Es konnte ein entspannter Augenblick nach dem Abendessen sein oder auf einer gemeinsamen Fahrt. Daher konnte ich oft zu Vorstellungen seine Zustimmung erhalten, die andere nicht erringen konnten, weil der Augenblick nicht günstig war 55).

Der junge Rockefeller war fasziniert von der Idee, ein Negro-Education-Board zu gründen. Nach vorläufigen Diskussionen entschied er aber, daß man nicht in den Grenzen eines Wohltätigkeitsprogrammes für nur eine Rasse bleiben sollte. Anläßlich eines Abendessens am 15. Januar 1902 legte Junior seine Pläne einer versammelten Gruppe von honorigen Erziehern aus dem Süden vor und erzielte begeisterte Reaktionen.

Einen Monat später trat dieselbe Gruppe wieder zusammen, um diesmal eine neue Organisation zu gründen, welche General Education Board genannt wurde und deren Aufgabe die „Förderung der Erziehung in den Vereinigten Staaten ohne Unterschied auf Rasse, Geschlecht oder Glauben" war 56). Es wurde ein erzieherisches Monopol. Mit den Worten von Gates:

    Aufgabe dieser Vereinigung ist, einen Träger bereitzustellen, durch welchen Kapitalkräftige des Nordens, die aufrichtig die große Erziehungsarbeit im Süden zu unterstützen wünschten, mit der Gewißheit agieren können, daß ihr'Geld weise verwendet würde 57).

Die neue Organisation absorbierte bald die wichtigsten bestehenden Wohltätigkeitsgruppen, die im Süden tätig waren — den Slater- und den Peabody-Fond —, nachdem sie von Mr. Rockefeller senior mit einer Anfangsgabe von einer Million Dollar ausgestattet worden war. Das General Education Board war auf seinem Weg. Wohin war es unterwegs?

Anfangs unterstützte es Robert Ogdens Southern Education Board, welches einige Jahre zuvor eingerichtet worden war. Dann weiteten sich seine Horizonte, um andere Aspekte und Bereiche der Erziehung einzuschließen, die in irgendeiner Weise der Nachhilfe bedürftig erschienen. Die Gründungsüberlegung wurde wahrscheinlich im „Gelegenheitsbrief Nr. 1" des Boards, von Gates verfaßt, am besten ausgedrückt:

    In unseren Idealvorstellungen haben wir unbegrenzte Mittel und die Leute fügen sich mit völliger Hingabe unseren formenden Händen. Die gegenwärtigen Erziehungs-Konventionen entschwinden ihren Geistern und, ungehindert durch Tradition, breiten wir unseren guten Willen über ein dankbares und ansprechendes ländliches Volk. Wir werden nicht versuchen, diese Leute oder eines ihrer Kinder zu Philosophen oder zu Menschen der Lehre oder Männern der Wissenschaft zu machen. Wir haben aus ihnen nicht Autoren, Publizisten, Dichter oder Männer der Schrift zu ziehen. Wir werden weder nach werdenden großen Künstlern, Malern und Musikern suchen, noch nach Anwälten, Doktoren, Predigern, Politikern, Staatsmännern, von welchen wir über ein großes Potential verfügen.

    Die Aufgabe vor uns wird eine sehr einfache und ebenso schöne sein, diese Leute so, wie wir sie vorfinden, für ein vollkommen ideales Leben dort, wo sie sind, auszubilden. Wir werden daher unsere Kinder organisieren und sie lehren, was ihre Väter und Mütter auf imperfekte Weise tun, in ihren Heimen, den Geschäften und auf den Farmen perfekt zu tun 58).

Eine andere, ähnliche Sicht der Macht der Wohltätigkeit wurde durch den Treuhänder des Boards, Walter Hines Pages, gegenüber dem ersten Exekutiv-Sekretär des Boards, Wallace Buttrick, ausgedrückt:

    ... die Welt liegt vor uns. Sie wird nicht dieselbe sein, die sie zuvor war, wenn wir fertig sind: darauf können Sie Ihren letzten Groschen setzen! 59)

Die Aufmerksamkeit John D. Rockefellers senior war dennoch nicht auf einem patriarchalischem Schema sozialer Revolution. Die berühmte Skandalgeschichte von Ida Tarbell, The History of the Standard Oil Company war als Fortsetzungsserie erschienen. Er war ständig gejagt, seine Post war täglich mit Hunderten Briefen, die nach Geld verlangten oder darum baten, durchsetzt, die Zeitungen und Magazine attackierten ihn und seine Organisation ständig.

    Unter dem sich summierenden Druck rebellierte der Körper, den er die letzten vierzig Jahre so erbarmungslos geschunden hatte. Briefe aus jener Zeit zwischen Rockefeller und seiner Frau berichten von Perioden schlafloser Nächte. Er begann, an Verdauungsbeschwerden zu leiden und sein Arzt bestand darauf, daß er sich von seinen Geschäften zurückziehe .. fast über Nacht wurden Menschen, die Rockefeller besuchten, durch sein gebrechliches und sorgengeplagtes Verhalten schockiert ... Sein Gesicht war tief gefurcht; er hatte Gewicht zugenommen und war um die Mitte überhängend. Er war von einer nervösen Krankheit geplagt, .. . welche ihn ohne jedes Haar am ganzen Körper ließ; in der erstmals beobachteten Eitelkeit eines anderweitig spartanischen Lebens sorgte er sich um seine Kahlheit, versteckte sie anfangs unter einer grotesken schwarzen Kopfbedeckung und später mit einer Anzahl schlecht-sitzender weißer Perücken, jede mit einer leicht unterschiedlichen Haarlänge, um den natürlichen Haarwuchs während zweier Wochen zu imitieren 60).

Rockefellers größter Wunsch war, sich gegen seine Feinde und gegen die öffentliche Meinung abzuschirmen, indem er Millionen in jede Art medizinischer oder erzieherischer Wohltätigkeit schüttete, die Gates aufgreifen konnte. Er hatte Gates zu seinem finanziellen Aufseher und zum Direktor seines Vermögens erhoben und hatte die Aufgabe des Weisswaschens seines Besitzes seinem Sohn John D. Rockefeller junior übertragen, welcher über die Jahre größere, teurere und spektakulärere Wege, Rockefeller-Reichtum in öffentlich deutlicher sichtbarer Weise auszugeben, aufspürte. Diese Männer — das kann getrost gesagt werden —wussten wenig von Wundt und Deutscher Psychologie; sie konspirierten nicht, um Amerikas Erziehung zu sabotieren, sondern um den Namen Rockefeller zu retten und den Reichtum Rockefellers gegen Angriffe zu umwallen. Nichtsdestoweniger wurden mit dem General Education Board, Rockefellers „Erziehungs-Trust", eine praktisch unbegrenzte Quelle von Mitteln für die Entwicklung Wundtscher Psychologie in der amerikanischen Erziehung bereitgestellt.

Nexus (Verbindung)

Der erste Kontakt zwischen den beiden Kräften fand auf der Höhe der Anti-Rockefeller Publicity 1902 statt:

    Kaum hatte Dr. Buttrick sein zweiräumiges Büro in der Nassau Street 1092 eröffnet, als ein Ansuchen von Dr. James E. Russe!!, Vorstand des Teachers. College der Columbia Universität mit einem Hinweis auf Dringlichkeit eintraf. Die Morgenpost habe bereits zwei Briefe aus dem Süden gebracht, erklärte Russell, und jeder Tag würde mehr bringen — alle von Lehrern, die um ein Stipendium ansuchten, damit sie in den Norden kommen könnten, um ihre Ausbildung zu vervollständigen . . Das General Education Board handelte schnell und innerhalb weniger Wochen waren Stipendien zu je 300 Dollar an sechs Norm-Schul-Lehrer gewährt worden 61).

Das unschuldige Beispiel war statuiert und das Spiel hatte begonnen. Das Teachers College brauchte mehr Geld, um die wachsende Zahl der Anmeldungen unterzubringen, um sein Curriculum zu erweitern und „Amerikas Erziehung im Einklang mit seinen Ambitionen und sie sogar übertreffend zu beeinflussen" 62). Dekan Russell fand seine stabile Basis der Finanzierung im Rockefeller-Reichtum. in einem Brief von John junior an Russell wurde es im späten Jahr 1902 so ausgedrückt:

Dem allmächtigen Gott als Dank dargeboten für die Bewahrung seiner Familie und seines Haushaltes bei der Zerstörung seines Landsitzes in Pocantico Hills im Staat New York durch eine Feuersbrunst in der Nacht des 17. September 1902, macht mein Vater folgendes Versprechen:

    In Kenntnis der Tatsache, daß die gesamte Verschuldung des Teachers College, derzeit 200 000 Dollar in runden Zahlen beträgt, welche Summe teilweise durch ein Defizit in den Betriebskosten des letzten Fiskaljahres und andernteils durch gewisse notwendige Instandsetzungen und Veränderungen zustandekam; sobald er zufriedenstellende Evidenz erhält, daß die gesamte Verschuldung getilgt worden ist, will mein Vater zweihundertfünfzigtausend (250 000) Dollar als Ausstattung zum College beitragen.

    Weiter will mein Vater über den Zeitraum von zwei Jahren alle in bar von anderer Seite gemachten Beiträge zur Aussteuer Dollar für Dollar bis zur Gesamtsumme von zweihundertfünfzigtausend (250 000) Dollar verdoppeln . . . 63).

Als Ergebnis erlebte das Teachers College einen meteorhaften Aufstieg:

    Nur fünfzehn Jahre nach der Übersiedlung in die 120. Straße erfüllte das Teachers College die Rockefeller-Auflagen und bedeckte einen ganzen Straßenblock mit sieben Gebäuden. Seine Einrichtungen waren zehn Monate des Jahres von morgens bis 10 Uhr abends geöffnet ... Seine Immatrikulationszahlen wurden nur von zehn Universitäten der gesamten Vereinigten Staaten übertroffen; nur Columbia, Harvard und Chicago hatten mehr Studenten, die 1912 eine höhere Ausbildung suchten als, erstaunlicherweise, das Teachers College zur viertgrößten Hochschule der Nation wurden 64).

Das Teachers College war deswegen in einer Zeit, die kritisch für seinen Erfolg war, in der Lage zu wachsen und mit dem kräftigen Bevölkerungszuwachs unter schulpflichtigen Kindern Schritt zu halten. Die Anzahl der Einschreibungen in öffentlichen Schulen war eine Reflektion dieses Anstieges, sie wuchs von 9 900 000 im Jahr 1880 auf 12 700 000 nur zehn Jahre später und stieg weiter beständig an. Die Anzahl der Colleges stieg von 350 im Jahr 1880 auf nahezu 500 im Jahre 1900, wobei die Anzahl der College-Einschreibungen sich im gleichen Zeitraum verdoppelte und in den frühen Jahren des neuen Jahrhunderts weiter zunahm 65). Der dringende Bedarf an Lehrern war vorhanden und das Teachers College war jetzt fest etabliert und bereit, diese Nachfrage mit etwas zu stillen, was andere Schulen nicht bieten konnten — eine Methodik, die „erzieherische" Psychologie genannt wurde.

Im Jahr, nach dem Rockefellers General Education Board das Teachers College auf seine finanziellen Füße gestellt hatte, publizierte Thorndike den ersten Band seines Meisterwerkes, Educational Psychology. 1904 war er als ordentlicher Professor etabliert und führte das Department of Educational Psychology des Teachers College. Im selben Jahr trat Dewey nach zehn Jahren Experimenten mit Kindern der Fakultät der Columbia Universität als Mitglied des „Departments für Philosophie und Erziehung" in einer ausgezeichnet geeigneten Position, die fortgeschrittenen Studenten am College zu beeinflussen bei 66). Mit Russell, Cattell, Thorndike und den anderen Wundtianern brachte Dewey die Kugel für eine neue Bewegung in der amerikanischen Erziehung ins Rollen. Eine Mischung aus „Erziehungs"-Psychologie und Sozialismus, wurde sie als „Progressive Erziehung" bekannt und war, vom Teachers College der Columbia Universität für das nächste halbe Jahrhundert ausgehend, in den 50-er-Jahren unseres Jahrhunderts an jeder Schule des Landes eine Alltäglichkeit.

Der Gottvater

Für Dewey und Thorndike war das Klassenzimmer ein „großes Laboratorium", in dem sie ihre Forschungen anstellen und die „Modifikation der Instinkte und der Fähigkeiten zu Gewohnheiten und Kräften” 67) untersuchen konnten. Doch es gab keine große Laboratoriumsschule an Columbia, kein Institut voller Studenten, die willig oder unwissentlich Subjekt eines großen Experiments der Wundtianer am Teachers College sein würden . . . — Nicht bis 1917, als ein Angebot für so ein Laboratorium von Abraham Flexner vom General Education Board kam. Wer war Flexner?

Abraham Flexner war ein fähiger Mann im Auftun von Geldquellen, ein erfahrener Erzieher und ein Organisator, der das Gefühl hatte, die Lösung sowohl für die vermutete Fehlerhaftigkeit in der amerikanischen Erziehung als auch für die Verpflichtung des General Education Boards, die Rockefeller-Millionen zu verteilen, zu haben 68). Ausgebildet an der John Hopkins Universität und an der Universität von Berlin, hatte er anscheinend wenig Kontakt mit den Wundtschen Psychologen an jedem der Institute. Flexners Erfahrung in der Erziehung rührte aus fünfzehn Jahren der Führung seiner eigenen Vorschule in Louisviile in Kentucky, und aus seinen Studien zu der Zeit als Forscher an der Carnegie Foundation für die Förderung des Lehrens in New York City, der deutschen und der amerikanischen Erziehung. 1913 verließ Flexner die Carnegie Foundation, um für das General Education Board anfangs als assistierender Sekretär, dann, vier Jahre später, als Sekretär zu arbeiten und dann das Board in Partnerschaft mit seinem Präsidenten Wallace Buttrick für die nächsten acht Jahre zu führen.

Als Intellektueller und Erziehungsfachmann des Hauses lag Flexners Stärke in der Verarbeitung großer Mengen von Informationen und darin, sie für andere verdaulich zu machen: seine Spezialität war Erziehung. Während Rockefeller und sein Sohn nur relativen Frieden und die Beruhigung von Millionen in der Bank, geschieden von den Umständen, unter denen sie erworben worden waren suchten und vor staatlichen und öffentlichen Angriffen sicher sein wollten, sah Flexner deutlicher als jeder andere, wie dieses Geld genützt werden konnte, um die progressive Erziehung in den Vereinigten Staaten zu fördern.

Flexners Einfluß auf die amerikanische Erziehung nahm zuerst die Form an, die amerikanische medizinische Ausbildung zu „verdeutschen". Während seiner Zeit an der Carnegie Foundation war Flexner beauftragt worden, die wichtigsten Medizin-Schulen der Vereinigten Staaten und Canadas zu studieren. In den folgenden achtzehn Monaten besuchte Flexner jedes der 155 Medizin-Colleges in den Vereinigten Staaten und in Canada. Flexner war entsetzt von Zuständen, die er unentschuldbar hielt im Vergleich zu den medizinischen Ausbildungsstätten, die er in Deutschland gesehen hatte. Nichtsdestoweniger fand er einige Medizin-Schulen, die er guthieß, besonders hervorzuheben seine Alma Mater John Hopkins, welche er für „den einen strahlenden Punkt, trotz fehlender Kliniken und dürftiger Ausstattung" hielt 69).

Die Unterstützung der „Modernisierung" amerikanischer Medizinal-Schulen entwickelte sich rasch im General Education Board, welches nach Wegen suchte, seine Menschenfreundlichkeit über das schmale Band der Unterstützung ländlicher Erziehung im Süden hinaus zu expandieren. Carnegie, welche die Studien anfänglich gestützt hatte, wollte mit der Finanzierung medizinischer Schulen nichts zu tun haben, weil „der praktische Schotte keinen Sinn in der Unterstützung von Institutionen sah, die sich in eine so abgründige Situation bringen konnte" 70). Aber auf Ansuchen der Carnegie Foundution verreiste Flexner erneut, diesmal, um die medizinischen Schulen in England, Schottland, Frankreich, Deutschland und Österreich zu studieren. Es war zur Zeit, da er seinen Abschlußbericht schrieb, daß Gates ihn zum Mittagessen einlud. Gates war stark an Deutscher Medizin interessiert und stand im Widerstreit zur homöopathischen Medizin, die von Rockefellers eigenem Arzt, Dr. H. F. Bigger benutzt wurde, mit welchem er oft heiße Debatten hatte. In dem kurzen Treffen fragte Gates Flexner, was er tun würde, wenn er eine Million Dollar zur Verfügung hätte, um die medizinische Ausbildung in den Vereinigten Staaten zu entwickeln. Flexner antwortete, daß er sie der John Hopkins Universität geben würde. Gates sandte Flexner an seine Alma Mater mit der Botschaft, daß, falls Flexner überzeugend für eine Spende plädieren könnte, diese durch das Board genehmigt werden würde. Einige Jahre später kassierte schließlich Flexner, indem er eine 1,5-Millionen-Spende an die deutsch-orientierte John Hopkins Universität durch das Board sicherte. Im selben Jahr verließ Flexner Carnegie und trat dem Board bei, wo er weiterhin die Vergabe von Rockefeller-Millionen für die Entwicklung der deutschen Chemie-orientierten Medizin in den Vereinigten Staaten dirigierte 71).

Zu der Zeit, als Flexner dem Board beitrat, hatten seine Angriffe gegen die amerikanische medizinische Ausbildung, welche Schlagzeilen auf den ersten Seiten im ganzen Land waren, dazu geführt, daß die Anzahl der medizinischen Schulen in den Vereinigten Staaten von 147 auf 95 72) gesunken waren. Die Heilpraktik war in diesem Land (den USA, d. Ü.) im Abstieg begriffen, weil sie sich besonders ungeeignet für Rockefeiter-Finanzierung gezeigt hatte. Über die Jahre (bis 19601 hatte das General Education Board insgesamt 96 Millionen Dollar 73) ausgegeben, um medizinische Ausbildungsstätten wie John Hopkins zu fördern, die Heilpraktik, Homöopathie und Chiropraktik zugunsten von Zweigen der Medizin, die fast ausschließlich auf chemischen Drogen basierten, ausschaltete. Die Sponsion der chemischen Medizin durch das Board auf der einen Seite und der Psychologie auf der anderen Seite kulminierte 1963, als eine Gruppe von Forschern an John Hopkins den Einsatz von Amphetaminen wie Dexedrin und Ritalin entwickelte, um Kinder, die als „gestört" oder überaktiv galten, zu „behandeln". Die Auswirkungen dieser Kombination Deutscher Medizin und Wundtscher Psychologie auf die amerikanische Erziehung sind am besten in dem Bestseller The Myrh of the Hyperactive Child and Other Means of Child Control von Divoky und Schrag 74) dokumentiert.

Flexners zweiter wichtige Beitrag zur Umformung der amerikanischen Erziehung und Gesellschaft kam 1916 mit seinem Plan, eine durch Rockefeller-Geld gestützte Experimentallaboratoriums-Schule zu schaffen, welche ein Schaustück der progressiven Erziehungspraktiken von Dewey und Thorndike werden sollte. Flexner legte seine Vorstellungen der Öffentlichkeit in einem kurzen Traktat dar, welches er „Eine Moderne Schule" betitelte 75). In ihm attackierte Flexner die amerikanische Erziehung und schlug einen scharfen Bruch mit funktionierenden Praktiken vor. Seine Experimentalschule würde das Studium von Griechisch und Latein streichen, Literatur und Geschichte würden nicht ganz aufgegeben, aber neue Methoden eingeführt werden, um diese Gegenstände zu lehren. Formale englische Grammatik würde gestrichen und klassische Literatur ignoriert werden.

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