Radikal und gefährlich

Flexners Vorschläge waren kaum so radikal wie jene von Dewey und anderen in der Erziehung tätigen Psychologen, aber Flexners Broschüre, dem Publikum als ein Papier des General Education Board mit dem vollen Gewicht der Rockefeller-Millionen im Rücken vorgelegt, erzeugte eine augenblickliche und dramatische Reaktion quer durch die Nation. Zu einer Zeit, als sich am Vorabend zum Ausbruch des Weltkrieges deutsche Unterseeboote an die britische Seefahrt im Nord-Atlantik heranpirschten und die Zeitungen mit Nachrichten aus Europa gefüllt waren, widmete die New York Times einen gewichtigen Leitartikel dem Vorschlag Flexners, nannte ihn „radikal und gefährlich" und „subversiv für einen großen Teil dessen, was wir für gut und wertvoll in unserem gegenwärtigen System der Ausbildung halten":

    Schamloser Materialismus findet seinen krönenden Triumph in der Theorie der modernen Schule. Im ganzen Plan ist nicht ein geistiger Gedanke, nicht eine Idee, die über das Bedürfnis, Taschengeld und Nahrung für den Bauch zu bekommen, hinausgeht ... Es ist Sache einer sofortigen Untersuchung, zur sehr nüchternen Überlegung, ob dem General Education Board mit den immensen Mitteln zu seiner Verfügung gestattet sein sollte, praktisch alle Einrichtungen, in denen die Jugend des Landes ausgebildet wird, nach seinem Willen zu formen.

    Falls dieses Experiment die erwarteten Früchte trägt, werden wir ein System der Erziehung dem Land aufgezwungen sehen, welches aus den Theorien von ein oder zwei Männern geboren wurde und ein System ablöst, welches ein natürlicher Sproß des amerikanischen Charakters und des Bedürfnisses des amerikanischen Volkes war — . . . Die Pläne des General Education Board verlangen nach sorgfältiger Prüfung 76).

Der Damm brach in einem nationalen Aufschrei gegen das General Education Board und seinem versteckten, oft auch offenen Versuch, die amerikanische Erziehung zu kontrollieren und zu verändern. Aus dem New York Journal of Commerce:

    Beispiele können in Hülle und Fülle genannt werden, wo die bloße Hoffnung auf ein großes Geschenk die gesamte Denkweise eines College-Vorstandes verändert hat und ihn veranlaßte, seine Segel auf einen völlig neuen Kurs einzustellen, um die günstigen Winde der Prosperität einzufangen 77).

Aus dem Manufacturers Record, Baltimore, Maryland:

    Kontrolle, die durch Besitz von im erzieherischen Trust konzentrierten Millionen zwei oder drei oder vier mal so viel Millionen Dollar in der Erziehung steuert, macht es möglich, die Einrichtungen und Methoden der Erziehung zu beherrschen. Es ermöglicht dem zentralen kontrollierenden Organ, den ganzen Charakter der amerikanischen Erziehung, die verwendeten Lehrbücher und die anzustrebenden Ziele zu bestimmen. über den Staat, durch Bekenntnis-orientierte und individuelle Systeme von Schulen und Colleges operierend, gibt sie dem finanziellen Kontrolleur Macht, seinen Günstlingen seine eigenen Anschauungen, gute wie schlechte, aufzuzwingen und dabei die öffentliche Meinung in sozialen, ökonomischen und politischen Angelegenheiten zu bestimmen 78),

Aus dem New Orleans Times-Democrat:

    Die Sachlage tritt hier klar zutage. Der Betrag, den das General Education Board zur Verfügung stellt ist größtenteils von Männern bereitgestellt, deren Interesse an der öffentlichen Meinung über bestimmte Angelegenheiten, die von vitaler Bedeutung für die Gesellschaft und den Staat sind, sehr groß ist. Ob ihre Menschenfreundlichkeit als Mantel dient, die erwünschten Ziele zu erreichen, oder ob der Plan selbstlos erdacht und der dunkle Einfluß unbewußt ausgeübt wird, die Auswirkung wird am Schluß dieselbe sein.

    Die Geschenke sind durch Einschränkungen und Bedingungen, die vorn General Education Board diktiert und auf Einhaltung überwacht werden, abgesichert. Jedes College, welches an dem reichen Geschenk teilhaben will, wird in bestimmter Weise zum Bittsteller. Nicht nur seine Leitsätze werden teilweise durch das Board diktiert, sondern es wird zusätzlich, wissentlich oder unwissentlich, durch die Wünsche seines Wohltäters beeinflußt 79).

Die Debatte wurde im Saal des US-Senats weitergeführt, wo Senator Chamberiain aus Oregon die Attacke gegen das General Education Board anführte und die Ansichten zahlreicher wohlbekannter Erzieher bekannt machte, unter ihnen Bishop Warren A. Candler, dem Kanzler der Emory Universität in Atlanta, Georgia:

    Mit der finanziellen Macht in seiner Kontrolle ist das General Education Board in der Lage, etwas, was niemand in diesem Land derzeit zu tun versuchen kann, zu tun. Es kann weitgehend bestimmen, welche Institute wachsen sollen und in gewisser Weise, welche stagnieren oder schrumpfen sollen. Es kann das Territorium der Nation überblicken. Plätze des Bildungsnotstandes ausmachen und neue erzieherische Einrichtungen nach Belieben aufbauen oder alte wieder beleben. Es kann auf vielerlei Art mit der Erziehung tun, was die Regierungen in Deutschland und Frankreich mit der Erziehung tun. Seine Macht wird enorm sein; es scheint, daß es in der Lage sein wird, den Charakter der amerikanischen Erziehung zu bestimmen. Die Mittel, über die es verfügt, stellen nur einen Bruchteil der Menge dar, die es kontrollieren wird. Indem es eine Summe einer Institution unter der Bedingung gibt, daß diese Institution eine gleich große oder größere Summe aufbringt, wird es in der Lage sein, viel größere Summen, als es besitzt, zu kontrollieren.

    Als ein Mechanismus zur Kontrolle akademischer Meinung hat möglicherweise niemals etwas ähnliches in der Geschichte der Erziehung existiert, das mit dem System des Boards, das Lernen zu subventionieren, zu vergleichen wäre ..

    . . . wir schulden unseren Vorfahren etwas, die unsere älteren Einrichtungen der Unterrichtung gegründet und bewahrt haben. Wir haben kein Recht, die Versprechen, die sie auf den Altar der höheren Bildung gelegt haben, in die versklavenden Bedingungen zu fesseln, die vom Rockefeller Board für jene Einrichtungen diktiert werden, denen es erniedrigende Almosen gewährt 80).

Die Lincoln Schule 

Das spezifische Thema war die „Moderne Schule", wie Flexner sie vorgeschlagen hatte, aber die Debatte war in die Tiefe gegangen und wurde Amerikas letzter großer Angriff gegen die Progressive Erziehung. Nach 1917 hatte die progressive Erziehung trotz allem gewonnen und die Übernahme ging schnell vor sich.

Sogar schon bevor die Wellen sich geglättet hatten gingen Flexner und das Teachers College an ihre Pläne für eine Laboratoriums-Schule. Flexner hatte die neue Schule nach dem Titel seiner Broschüre „Die Moderne Schule" nennen wollen, aber diese Wendung war so unbeliebt geworden, daß er beschloß, sie Lincoln Schule zu nennen 81). Dem Drängen Flexners nachgebend, stimmte das General Education Board zu, die nötigen Mittel für die Einrichtung und den Betrieb der Lincoln Schule bereitzustellen und sogar das Gehalt des Direktors zu bezahlen.

Die Schule wurde provisorisch mitten in Manhattan errichtet, doch schon 1920 kaufte das Board ein Arreal näher am Teachers College und investierte ungefähr 1,25 Millionen Dollar in Gebäude und Einrichtungen der neuen Schule.

Nachdem die Lincoln Schule in die neuen Gebäude gezogen war, führten das Teachers College und das General Education Board Diskussionen über das, was „permanente Finanzierung" genannt wurde. Nach formalen Gesuchen durch den Dekan Russell um Ausstattung . genehmigte das General Education Board 1926 500 000 Dollar, 1927 500 000 Dollar und 1928 2 000 000 Dollar 82).

Die beiden Kräfte, Deutsche Psychologie und Rockefellers Geld hatten sich in einer Institution, deren Ziel „die Entwicklung neuer Curricula und Methoden" 83) war, kraftvoll vereint. Neue Lehrbücher wurden geschaffen. Die genormten Unterrichtspraktiken wurden revidiert, ein Lehrgang über das Studieren, der um die Prinzipien des Teachers College organisiert war, wurde von Thorndike und Dewey entwickelt. Hier stand der flügge gewordene Prototyp.

Mehr als tausend Erzieher besuchten die Lincoln Schule allein in den Jahren 1923, 1924. John D. Rockefeller junior schickte sogar vier seiner fünf Söhne zur Erziehung an die Lincoln Schule mit Ergebnissen, die vorhergesagt hätten werden können, hätte er die Werke Thorndikes und Deweys gelesen:

    Laurence (Rockefeller) gibt erstaunlich Zeugnis dessen, Why Johnnie Can't Read (Anm. d. Titel eines Buches, zu Deutsch „Warum Johnnie nicht lesen kann", siehe Fußnote 25). Er sagt, daß die Lincoln Schule ihn nicht lesen und schreiben gelehrt habe, wie er es heute gerne möchte. Nelson gibt heute zu, daß das Lesen für ihn ein „langsamer und mühsamer Prozeß" ist, an dem er sich nicht erfreut, zu dem er sich aber zwingt. Das ist signifikante Evidenz in der Debatte, die sich über moderne erzieherische Techniken erhitzt" 84).

Als ein Experiment in der Erziehung hatte die Lincoln Schule sich als Fehlschlag erwiesen und hatte finanzielle Sorgen, trotz fortdauernder Rockefeller-Unterstützung bis zu 5 Millionen Dollar 85). Letztendlich wurde sie 1946 vom Teachers College geschlossen und durch das Institut für Schalversuche ersetzt, welches die Aufgabe, die amerikanische Erziehung umzumodeln, fortführte:

    1946 war das Urteil der Treuhänder und der Verwaltung, daß das Institut für Schulversuche sich als höchst erfolgreiches Instrument zum Experimentieren in der öffentlichen Schule erweisen würde, durch die Aufzeichnungen des Institutes reichlich berechtigt. Das Schließen der Schule und die Übertragung seiner Ausstattung an das Institut hatte den Effekt, die Anzahl der erzieherischen Laboratorien des Colleges zu vergrößern. Während das Teachers College einst nur in Morningside Heights Labor Schulen hatte, hatte es sie jetzt überall im Land, und es waren öffentliche Schulen mit der typischen Population der öffentlichen Schulen 86).

Die Endlösung

Die Lincoln Schule erzeugte, trotz ihrer Unfähigkeit, ihren Schülern Lesen und Schreiben beizubringen, breite Auswirkungen auf die amerikanische Erziehung. Indem sie den traditionellen Gang der Bildung abschaffte, entwickelte sie das Kern-Curriculum und mischte das Studium der Geschichte, Geographie und Staatsbürgerkunde in etwas, was sie „Sozial-Lehre" nannte. Für eine Generation von Lehrern und Verwaltern, die am Teachers College ausgebildet worden waren, war die Lincoln Schule ein Modell einer Schule, zu dessen Errichtung in ihrer Heimat sie ausgebildet worden waren. Für tausende Besucher war sie ein Schaustück Deutscher Psychologie und Progressiver Erziehung. Für die Kräfte Rockefellers war sie eine Demonstration für all die selbstlose Absicht hinter dem Rockefeller-Vermögen. Doch sie war weder, wie groß auch immer, das ganze Ergebnis der Anstrengungen zur Progressiven Erziehung am Teachers College, noch repräsentierte sie die tausende Wege, auf denen ein vermögendes Teachers College die ständige Wandlung der amerikanischen Erziehung förderte. In unserem Erziehungssystem gibt es wenig, in dem Professoren des Teachers College ihre Hände nicht hatten. Deweys Schüler Rugg, Counts und Kilpatrick sind gute Beispiele dafür, wohin die Deutsche Psychologie die Lehrer unserer Lehrer führte.

In den Worten von Rugg:

... durch die Schulen der Welt werden wir ein neues Konzept einer Staatsform verbreiten — eines, das sämtliche Aktivitäten der Menschen umfassen wird; eines, das nach wissenschaftlicher Kontrolle und Handhabung der ökonomischen Belange im Interesse aller Menschen verlangt 87).

Rugg schlug vor, daß dies auf dreierlei Weise geschehen könnte:

    Erstens und zuvorderst ist die Entwicklung einer neuen Philosophie des Lebens und der Erziehung, die ganz der neuen sozialen Ordnung entsprechen wird; Zweitens wird ein Plan für das Hervorbringen einer neuen Art von Sozialarbeitern aufzustellen sein; Drittens werden neue Tätigkeiten und Materialien für das Curriculum erstellt werden müssen 88).

Counts ging weiter, indem er vorschlug, daß die Schulen selbst die neue soziale Ordnung errichteten:

    Der historische Kapitalismus mit seiner Verherrlichung des Prinzips des Eigennutzes, seinem Vertrauen in die Kräfte des Wettbewerbes, seiner Art, Eigentum über menschliche Rechte zu stellen und seiner Übertreibung des Gewinnstrebens wird entweder insgesamt verdrängt oder in Gestalt und Geist so radikal verändert werden, daß seine Identität völlig verloren geht . Daß die Lehrer freizügig nach Macht streben, um dann aus ihrer Eroberung das höchste herauszuholen, ist meine feste Überzeugung. In dem Maß, in dem ihnen gestattet wird, das Curriculum und die Vorgehensweise der Schule anzupassen, werden sie bestimmt und positiv die soziale Einstellung, die sozialen Ideale und das soziale Verhalten der kommenden Generationen beeinflussen 89).

Obwohl die Ansicht Kilpatricks ahnlich war, wird er hier nicht wegen seiner Unterstützung des Marxismus und der Psychologie in der Erziehung erwähnt, sondern weil er 1914 einen ätzenden Angriff gegen die Methoden der italienischen Erzieherin Maria Montessori veröffentlichte. Er argumentierte, daß Dr. Montessoris „Schwerpunkt auf Individualität die sozialen Interaktionen, die in den progressiven amerikanischen Theorien stark hervorgehoben würden, ausschließe":

    Er beschwerte sieh ferner, daß die Lehrmaterialien nicht stimulierend wirkten; daß Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen zu früh erlernten; und daß alle guten Elemente bereits in Dr. Deweys Theorien, die weit über jene von Dr. Montessori hinausgingen, enthalten waren. Dr. Kilpatricks Buch hatte solchen Einfluß, daß die Methoden Montessoris 1918 selten in den USA erwähnt wurden, obwohl sie andernorts florierten 90).

Das Ergebnis aus Kilpatricks gehässigen Angriffen war die Unterdrückung der Montessori-Methoden in der amerikanischen Erziehung für die nächsten fünfzig Jahre. In der Zwischenzeit bereitete Thorndike die Veröffentlichung neuer Lesebücher, Rechenbücher und Worterbücher (zusammen mit Barnhart) vor, Lehrbücher der Erziehung und des erzieherischen Testens, und ähnliches. Und das General Education Board finanzierte weiterhin das Teachers College, die Progressive Education Association, die National Education Association und andere mit dem stolzen Betrag von hundert Millionen Dollar 91).

1953 hatte die Wundtsche Psychologie vom Teachers College ausgehend jede Schule im Land erreicht:

    Die stärkste einzelne erzieherische Kraft der Welt ist auf der 120. Straße und am Broadway in New York City. Die Lehrer unserer Kinder gehen für ihre höhere Ausbildung dort hin ... Mit 100 000 ehemaligen Studenten hat das Teachers College es fertig gebracht, etwa ein Drittel der amerikanischen Präsidenten und Dekane, die jetzt (1953, d. A.) an akkreditierten Lehrerausbildungsstätten im Amt sind, zu stellen. Seine Absolventen machen 20% sämtlicher Lehrer an öffentlichen Schulen aus. über ein Viertel der Schulinspektoren in 168 Städten der USA mit mindestens 50 000 Einwohnern sind am Teachers College ausgebildet worden 92).

Heute ist Wundt fast vergessen. Gates, Flexner, Cattell, Russell, sogar Thorndike, sind nur mehr Namen in den Büchern, die ihre Schüler geschrieben haben. Sie scheinen für die heutigen Erziehungsprobleme: Drogenmißbrauch, Analphabetentum, Kriminalität, verringerte Anforderungen, Mangel an Motivation und Selbstdisziplin und dem ganzen Rest irrelevant zu sein. Nimmt man ein Lehrbuch der Psychologie für das erste Hochschuljahr, findet man möglicherweise keinen Hinweis auf Wundt oder gar Cattell. Man versuche, ein Wörterbuch zu finden, das nach 1920 veröffentlicht wurde und welches eine korrekte Definition von Psychologie enthält. Man frage jene, die vor 1917 zur Schule gingen, um herauszufinden, wie es war. Man prüfe die frühen Werke und die frühe Geschichte der Psychologie; man prüfe Tatsachen, die Namen, die Daten, Örtlichkeiten und Ereignisse. Bei weiterer Forschung wird sich zeigen, daß trotz zunehmender Milliarden der Rockefeller Stiftung, anderen großen Stiftungen und, neuerdings, der Bundesregierung, die in die die amerikanische Erziehung gepumpt werden, die Lage nur schlechter wird. Trotz der Millionen, die Jahr für Jahr für die scheinbare Entwicklung der Psychologie ausgegeben werden, hat dieses Gebiet bis heute nicht eine funktionierende Lösung für die Probleme der Erziehung geboten, von denen sie viele, wenn nicht die meisten, hervorgebracht zu haben scheint. Es ist Zeit, daß die beiden getrennte Wege gehen.

Epitaph (Grabinschrift) 

Am 31. August 1920 starb Wundt in Großbothen nahe Leipzig in Sachsen. John D. Rockefeller senior starb 1937. 1944 starb James McKeen Cattell in Lancaster, Pennsylvanien. 1949 sah den Tod von Edward Lee Thorndike; Dewey verschied 1952, 1959 starb Abraham Flexner in Falls Church, Virginia, nachdem er das Institut für fortgeschrittene Studien an der Princeton Universität, dem Heim der Atom-Bombe gegründet und betrieben hatte.

Das General Education Board ging 1960 nach dem Tod von John D. Rockefeller junior in der Rockefeller Foundation auf und existiert nicht mehr als eigenständige Einheit.

Nachwort des Übersetzers

Dieses Buch ist das Werk eines engagierten Amerikaners, der die Lage in seinem Land kritisch betrachtet. Welche Bedeutung haben die amerikanischen Verhältnisse für uns Europäer? Besteht ein Zusammenhang zwischen Amerika und Europa? Wir leben in einer Zeit der großen Internationalen Organisationen, die zwar nur Empfehlungen aussprechen, weiche dann aber doch meist überall ausgeführt werden. Kann auf diesem Weg eine Reform herbeigeführt werden, die das Individuum vom Zustand seiner eigenen Ursächlichkeit verdrängt und es zum Effekt großer Entscheidungen macht? Die Geschichte der Deutschen Psychologie und ihrer Auswirkung auf die amerikanische Erziehung zeigt, daß Ländergrenzen kaum mehr eine Rolle spielen.

In Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern erleben immer mehr Eltern, daß ihre Kinder den Anforderungen der Schule nicht gewachsen sind. Von Jahr zu Jahr der schulischen Bildung durchlaufen diese Kinder eine emotionale Entwicklung, die Anlaß zu ernster Sorge ist. Suchen solche Eltern Rat bei Ärzten und anderen Beratungsstellen, wird ihnen nur zu häufig entweder eine medikamentöse Lösung angeboten, oder Trost, daß es eben so sei und daß man schon das beste daraus zu machen suche.

Im Biologieunterricht etwa des fünften Schuljahres erfahren diese Kinder dann, daß die Intelligenz eines Menschen schon durch die Vererbung praktisch vor der Geburt festgelegt sei. Wen wundert es also, daß manche Kinder halt nicht mithalten können? Doch! — jemand wundert sich! — nämlich jene Kinder, die zu grübeln beginnen, wieso gerade sie so wenig mitbekommen haben auf ihren Lebensweg, dann, wenn sie wieder einmal vor schier unlösbaren Problemen im Lernen stehen. Was ihnen bleibt, ist sich damit abzufinden, daß sie von einem unergründlichen Zufall stiefkindlich behandelt wurden — und sie resignieren. Die weiteren schulischen Misserfolge werden dann alle auf dieses Konto gebucht und man kann halt nichts dagegen tun. Jene, die scheinbar gegen alles rebellieren, wollen sich vielleicht nur nicht damit abfinden und schlagen wie wild um sich. Sie fühlen sich betrogen und wissen nicht, von wem — es ist ihre Erziehung, die sie betrogen hat.

Das weitere Ergebnis daraus sind Menschen, die aufgegeben haben, die Welt zu erleben, bevor sie die Welt sehen durften oder Menschen, die die Gesellschaft bekämpfen, bevor sie die Gesellschaft kennengelernt haben.

Eine große Zahl von Kindern hat Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben. Läßt man diese Kinder laut lesen und achtet genau darauf, was sie lesen, kann man gar nicht umhin, dies zu beobachten: sie nehmen das „Bild" der ersten drei vier Buchstaben, manchmal dazu noch die letzten, und erfinden ein Wort, das diesen Teilen entspricht. Sie haben gelernt, Wortbilder zu erkennen und beim Lesen scheinen sie das vor ihnen liegende Wort mit allen ihnen bekannten „Wortbildern" zu vergleichen. Sie sind geistige Schwerarbeiter, deswegen geht es nicht ganz so schnell.

Natürlich haben sie längst aufgegeben, einen zusammenhängenden Sinn im gedruckten Text zu suchen — sie wissen nicht, welche Bedeutung die meisten der so „gelesenen" Wörter haben.

Diese Kinder sind nie unterrichtet worden, daß Schrift und Sprache ein Paar bilden, daß jedes Schriftzeichen für sich ein Signal darstellt und daß aufgrund vereinbarter Konventionen manche Schriftzeichen zusammen ein neues „Schriftzeichen" für Laute ergeben (z. B. im englischen „ea" oder „th", oder im deutschen „sch" oder „ie"). Sie haben nicht gelernt, Laute und Schriftzeichen einander zuzuordnen und haben ständig Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung — was auf ihre Anlagen zurückgeführt wird. Als einzige Lösung wird ihnen ständige Übung zur „Einprägung" empfohlen. In Unkenntnis des Zusammenhanges zwischen Laut

und Schriftzeichen wird für sie dann für das Studium einer Fremdsprache zum Martyrium, weil plötzlich alles, was sie sich mühsam eingeprägt haben, nicht mehr stimmt — und sie versagen.

In Büchern, Sendungen des Schulfunks, in Familiensendungen und von Betreuern und Beratern werden Lernschwierigkeiten meist „psychologisch" erklärt, die Betroffenen erhalten nur zu häufig Anleitungen zu Techniken, die die Fähigkeit steigern sollen, sich Dinge zu „merken". Es wird von „Langzeitgedächtnis", „Kurzzeitgedächtnis" und „Merkleistung" gesprochen und erklärt, daß diese Dinge eben durch die Struktur des Gehirns vorgegeben seien und daß man ihrer Rechnung tragen müsse. Und es werden Tricks aufgezeigt, wie man im Rahmen dieser „natürlichen" Beschränkungen optimal „lernen" könne. Viele dieser „Erkenntnisse" sind jüngeren Datums, aber sie basieren meist auf der „Modernen Psychologie". Liest man solche Ratschläge, erkennt man sogleich die Wundtsche These des Reiz-Reaktions-Mechanismus, der den Menschen ausmache: „Nicht in der Stellung lernen, in der man gewöhnlich schläft", „Wichtiges vor dem Schlafengehen wiederholen, damit das Einprägen des Gelernten nicht durch Erlebnisse gestört wird", „Beim Lernen unbedingt mitschreiben und leise mitsprechen, um die Lerninhalte durch verschiedene Wahrnehmungsempfindungen einzuprägen". Und so weiter, eine schier endlose Liste von mechanischen Verhaltensregeln hinab.

Unübersehbar steht hinter all dem Autorität; schon in den frühen Schuljahren haben wir als Kinder gelernt, daß jene, die es schaffen, einfach besser sind und daß es klug ist, ihnen zu folgen, weil man selbst ja doch nicht versteht, worum es geht. Die schlechten Noten mit ihren Konsequenzen fürs Leben haben schließlich eine gewaltige Überzeugungskraft. Erwachsen, getrauen sich dann viele nicht ohne Einwilligung einer vorgesetzten Autorität zu handeln, selbst wenn es eine solche nicht gibt — da handeln sie lieber gar nicht, wenn es ihnen nicht befohlen wird.

In Europa gibt es kein Teachers College; trotzdem hat die dort erdachte „Progressive Erziehung" fast jede Schule der westlichen Welt erreicht. Man nehme die Lehrbücher unserer Kinder zur Hand und prüfe ihren Inhalt gegen die Grundsätze Thorndikes (z. B. im Kapitel „Tierpsychologie im Klassenzimmer"); man beobachte die Fertigkeiten eines 14jährigen Menschen und beurteile sie anhand der von Thorndike postulierten Funktion der Grundschule. Und man nehme sich die Mühe, bildungspolitische Äußerungen, Veröffentlichungen und Diskussionen zu studieren und das gesetzte Ziel mit dem zu vergleichen, was die Gründer des Teachers College anstrebten (vergl. Kapitel „Die Endlösung").

Wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches das Gefühl haben, daß Sie ohnmächtig dem allem ausgeliefert seien, weil man gegen die Übermacht nicht ankommen könne, dann ziehen Sie bitte in Betracht, daß auch Sie mächtiger sein könnten, als Ihnen im Lauf Ihrer Schulbildung zu glauben erlaubt worden ist. Ihr Impuls zur Resignation könnte sorgfältig eingeprägte Resignation sein, die sich immer zum richtigen Zeitpunkt meldet (Vergl. Kapitel „Hall und Dewey" und „Tierpsychologie im Klassenzimmer"). Doch gerade die Tatsache, daß Sie an „Ihre Ohnmacht" erinnert wurden, ist ein Hinweis auf Ihre schlummernden Kräfte.

Nehmen Sie Stellung zu den aktuellen Bildungsfragen, schreiben Sie Briefe an Ihre Zeitung und an die zuständigen Politiker und verlangen Sie Auskunft darüber, woher die vorgeschlagenen Neuerungen stammen und welchem Ziel sie dienen. Seien Sie mißtrauisch gegenüber „internationalen Empfehlungen", sie dienen meist anderen Interessen als Ihren. Weisen Sie auf dieses Buch hin. Der hier aufgezeigte Zusammenhang ist kaum jemandem bekannt und manche

wohlgesinnte Persönlichkeit ist selbst hinters Licht geführt, wenn sie progressive Methoden vertritt.

Die Schulbildung ist Teil der elterlichen Erziehungsgewalt, die nur an gemeinschaftliche („staatliche") Einrichtungen delegiert ist, die den Willen des Volkes auszuführen haben. Verlangen Sie von den Verantwortlichen, daß Ihr Kind in Ihrem Interesse erzogen wird. Sie haben ein Recht darauf. Ihre Stimme hat Gewicht.

Bibliographie

(1) Abels, Jules: The Rockefeller Billion; The Story of the World's most Stupendous Fortune — New York: Macmillan, 1965

(2) Baker. Melvin: Foundarions of John Dewey Educational Theory —New York: Kings Crown Press, 1955

(3) Bernstein, Richard .1.: John Dewey — New York: Washington Square, 1966

(4) Boring, Edwin 0.: A History of Experimente! Psychology, 2. Aufl. —New York: Appleton-Century-Crofts Inc., 1929

(5) Butler, Nicholas Murray: Education in the United Stares of Monographs — New York: American Book Company, 1910

(6) Calkins, Carroll C.: The Story of America; Pleasantville — New York: Readers Digest, 1975

(7) Collier, Peter, and David Horowitx: The Rockefellers; An American Dynasty — New York: American Library, 1976

(8) Counts, George S.: Dare the School Build a New Social Order? — New York: John Day Co., 1932

(9) Cremin, Lawrence A., David A. Shannon and Mary Evelyn Townsend: A History of Teachers College Colurnbia University — New York: Columbia University Press, 1954

(10) DeGarmo, Charles: Hebart and the Hebartians — New York: Charles Scritaner's Sons, 1912

(11) DePencier, Ida B.: The History of Laboratory Schools, The University of Chicago, 1896-1965 — Chicago: Quadrangie Books, 1967

(12) Dunkel, Harold B.: Hebart & Education — New York: Random House, 1969

(13) Emery, H. 0. and K. G. Brewster: The New Century Dicitionary of the Enghsh Language — New York: Appleton-Century Crofts, 1927

(14) Flesch, Rudolph: Why Johnny Can't Read — New York: Harper & Row, 1955

(15) a) Flexner, Abraham: Abraham Flexner: An Autobiography — New York; Simon and Schuster, 1960.
b) Flexner, Abraham: A Modern School, Occasional Paper No. 3 — New York: The General Education Board, 1916

(16) Fosdick, Raymond B.: Adventure in Giving: The Story of the General Education Board, A Foundation Established by John D. Rockefeller —New York: Harper & Row, 1962

(17) Goy, Michael .1.: The Missing Dimension in World Affairs — S. Pasadena: Emissary, 1976

(18) Joncich, Geraldine: The Sane Pacifist: A Biography of Edward L. Thorndike Middletown: Wesleyan University Press, 1968

(19) Mayer, Frederick, Hrsg.: Foundarions of Conremporary Education — New Haven: College & University Press, 1966

(20) Monroe, Paul: A Brief Course in the History of Education — New York: Macmillan, 1927

(21) Mori, Paui R. and William S. Vincent: Introductlon to American Education — New York: McGraw — Hü), 1954

(22) Murphy, Gardner, and Joseph K. Kovach: Historical Introduction to Modern Psychology, 6. Aufl. — New York: Harcourt Brace, 1972

(23) Nevins, Allan: Study in Power: John D. Rockefeller, Industrialist and Philanrhropist, 2 Bände — New York: Charles Scribner's Sons, 1953

(24) Palmer, A. Emerson: The New York Public School: Being a History of Free Education in the City of New York New York: Macmillan, 1905

(25) Pintner, Rudolph, u. a.: An Outline of Educational Psychology, revidierte Aufl. — New York: Barnes & Noble, Inc., 1934

(26) Rockefeller, John D.: Random Reminiscences of Men and Events —Toronto: McClelland & Goodchild, 1909

(27) Schrag, Peter, and Diane Divoky: The lgyth of the Hyperactive Child & Other Means of Child Control — New York: Random House, 1975

(28) Schultz, Duane P.: A History of Modern Psychology — New York: Academic Press, 1969

(29) Shipley, Thorne, Hrsg.: Classics in Psychology — New York: PhilosophicaI Library, 1961

(30) Stormer, John A.: None Dare Call 11 Treason Florissant, MO — Liberty Beil Press, 1964

(31) a) Thorndike, Edward L.: The Principles of Teaching Based an Psychology — New York: A. G. Seiler, 1925

b) Thorndike, Edward L.: The Elements of Psychology, 2. Aufl. — New York: A. G. Seiler, 1915

c) Thorndike, Edward L. and Arthur 1. Gates: Elementary Principles of Education — New York: Macmillan, 1929

(32) Vassar, Rena L., Hrsg.: Soda! Hisrory of American Education, 2 Bande — Chicago: Rand McNally & Co., 1965

(33) Watson, R. I.: The Great Psychologists — Philadelphia: Lippincott, 1963

(34) Wingo, G. Max: The Philosophy of American Education — Lexington: D. C. Heath, 1965

(35) Wirth, Arthur G.: John Dewey as Educalor: His Design for Work in Education (1894-1904) — New York: John Wiley & Sons, Inc., 1966

(36) Wormser, Rene A.: Foundations: Their Power and lnfIuence — New York: Devin-Adair, 1958

(37) Wundt, Wilhelm: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung — Leipzig: C. F. Winter, 1862

 

NavLeft NavRight NavUp