In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte ein großer Wandel in der amerikanischen Erziehung ein. Um das Ende des ersten Weltkrieges begannen immer mehr Amerikaner, eine Veränderung in der Unterrichtung ihrer Kinder zu bemerken. In den darauf folgenden Jahrzehnten sind die amerikanischen Schulen — die einst den amerikanischen Traum hervorgebracht hatten — mit Drogen und Kriminalität infiziert worden und höhere Lehranstalten bringen Absolventen hervor, die kaum Lesen, Schreiben und einfache Arithmetik beherrschen.
Dieser Bericht versucht die Ursprünge einer nationalen Metamorphose darzulegen.
Dieses Buch ist das Ergebnis eines umfangreichen Literaturstudiums. Jene Werke, die der Autor im besonderen für seine Arbeit maßgeblich erachtete, sind am Ende des Buches in einem Verzeichnis zusammengestellt. Sofern im Text auf Werke Dritter Bezug genommen wird, ist dies durch einen Hinweis auf das Verzeichnis und gegebenenfalls durch eine kurze Anmerkung gekennzeichnet.
Wir empfehlen dem Leser, die Fußnoten gebührend zu beachten, sie eröffnen von Fall zu Fall weitere Perspektiven des Themas.
Die Anmerkungen zum Text sind fortlaufend numeriert, die Referenzwerke nach der alphabetischen Reihenfolge ihrer Autoren. Siehe Bibliographie am Ende des Buches.
Der Übersetzer
Seien Sie bei der Lektüre dieses Buches sicher, daß Sie die vorkommenden Wörter in der zutreffenden Bedeutung kennen. Schlagen Sie im Zweifelsfall die Wörter in einem Bedeutungswörterbuch nach.
Gerade außerhalb Portlands in Oregon, USA, auf der Straße zur Küste hinunter, liegt am Straßenrand ein kleines Restaurant, das für seine hausgemachten Torten berühmt ist. Es ist ein sehr hübsches Plätzchen und ich pflegte dort oft mit meiner Frau zum Frühstück einzukehren. Das Restaurant liegt in einem üppigen Landwirtschaftsgebiet, reich an Obstgärten, Rindern und Getreide. Die Stadt ist gedrängt und sauber, mit modernen, gut ausgestatteten Schulen, gut sortierten Geschäften und neuen Häusern, die auf den umliegenden Hügeln entstehen. Es ist eine Art halb-ländlicher Gemeinde, weit genug von der Großstadt entfernt, um den Bewohnern den Genuß der frischen Landluft zu geben, aber doch nah genug, um eine wachsende Zahl von Städtern, die dem Lärm und der Zerstreuung der Großstadt fliehen, anzuziehen.
Ich war in vielen ähnlichen Städtern in den Hügeln Virginias außerhalb Washington, DC, in der kleinen Stadt draußen im Westen von Chicago; an der Küstenschnellstraße von Boston hinauf; in irgendeiner von tausend Städten in diesem Land, die zu klein sind, um als Großstadt angesehen zu werden, aber doch zu groß für nur eine Tankstelle.
Es hätte irgendwo sein können im sogenannten „Mittleren Amerika". Nach dem Essen ging ich zur Kasse hinüber, um zu bezahlen. Das Mädchen hinter dem Tresen war in ihren späten Zwanzigern attraktiv und sichtbar nervös, als ich eine 10-Dollar-Note reichte. Sie schaute auf die Rechnung, tippte den Betrag in die Registrierkasse und starrte auf die Anzeige, als sie erkannte, daß sie uns 15 Cent zuviel berechnet hatte.
„Was macht 4,35 weniger 15 Cent?" fragte sie. Ich sagte ihr, daß es 4,20 wäre. Sie machte „Oh" und legte meinen Beleg in die Lade. Mit Kleingeld in der Hand zählte sie mir das Wechselgeld hin und gab mir einen Zehner weniger, als sie mir schuldete. Als ich sie darauf aufmerksam machte, errötete sie, gab mir den Rest und meinte „ich hoffe, daß es jetzt stimmt". Es summte.
Gewöhnlich war ich für solche Begebenheiten blind. Ich habe ähnliche Erfahrungen mit Leuten gehabt, die nicht richtig herausgeben konnten, die Schilder nicht lesen oder einen Busfahrplan nicht entziffern konnten. Ich habe, wie viele vor mir, von verminderten Anforderungen in der Bildung und von schlechten Zuständen an unseren Schulen gelesen, über Schulabgänger, die nicht fähig sind, zu lesen und zu schreiben oder einfache Rechnungen durchzuführen. Und natürlich habe ich Personen getroffen, die kaum Alphabeten waren — es ist Teil des amerikanischen Lebens geworden: einige Leute sind intelligent, andere sind es nicht. Als Erzieher und Forscher teilte ich diese Einstellung weitgehend, obwohl ich in eine Familie geboren worden war, in der so eine Sache für jeden, der auch nur eine Mindestzeit in der Schule verbracht hatte, undenkbar war. Mein Vater war in New York City aufgewachsen, hatte öffentliche Schulen besucht und schon große Belesenheit erreicht, als er die Reifeprüfung ablegte. Meine Mutter war in einer ländlichen Stadt im oberen Staat New York aufgewachsen, sie erzählte mir oft Geschichten aus ihrer Heimatstadt und von den Schulen, die sie besucht hatte, Ihre Eltern waren kurz nach der russischen Revolution von 1905 immigriert, sie war als Kind von ihrer Mutter quer durch Europa getragen worden bevor sie die beschwerliche Reise über den Atlantik in eine neue Welt antraten, in der man nur durch seine Fähigkeiten und Träume begrenzt war. Sie zeigte mir oft ihre Bücher oder las mir aus ihren Schulbüchern vor: die Gedichte von Shelley, Byron, Coleridge, Stevenson, Pope. Große Werke der Literatur. Lateinische Werke. Mein Verständnis übersteigende Arithmetik. Lesebücher mit Wörtern, die ich nie gehört hatte. Eines Tages, so hatte ich mir gesagt, würde ich diese Bücher lesen und lernen, was sie mich lehren konnten.
Ich würde belesen sein wie meine Mutter. Ich würde schöne Literatur in- und auswendig kennen. Ich würde Latein können. Ich würde die wichtigsten Werke der Literatur gelesen haben. Ich würde die Reifeprüfung ablegen.
Es kam nie so — und ich habe nie verstanden, warum. Natürlich habe ich die Reifeprüfung abgelegt und ich war auf dem College. Ich erwarb einen akademischen Grad und fühlte mich gebildet, obwohl ich nicht viel mit dem anfangen konnte, was ich gelernt hatte. Bis ich erkannte, daß ich meine eigene Bildung anhand der neueren Ergebnisse unserer Schulen beurteilte. Würde ich meine Bildung mit jener vorangegangener Generationen vergleichen, könnte ich mich zurecht ziemlich ungebildet fühlen.
Was war geschehen? Ganz offensichtlich hatte sich etwas verändert. Irgendwann im Lauf der Geschichte hatten unsere Schulen die Fähigkeit verloren, unsere Kinder routinemäßig zu erziehen und einheitlich gute Resultate dabei zu erzielen. Ich beschloß, die Tatsache des Wandels zurückzuverfolgen und, wenn möglich, herauszufinden, welche spezifischen Veränderungen stattgefunden hatten. Wenn wir diese finden würden, könnte es vielleicht möglich sein, an der Krankheit statt an den Symptomen etwas zu tun.
Eigentlich hatte ich keine Ahnung, wo ich beginnen sollte, bis mir ein Freund eine Niederschrift eines Congessional Record (Protokoll des US-Kongresses, Anm. d. 13.) aus dem Jahre 1917 zeigte. Die Debatte konzentrierte sich auf ein Experiment, welches „The New York Times" als „radikal und gefährlich" bezeichnete, in dem Rockefeller-Geld und ein Projekt der Columbia Universität, genannt Lincoln Schule, eine Rolle spielten. Einige Mitglieder des Kongresses bekämpften heftig eine Gruppe, die sich General Education Board nannte und deren Befähigung, die Bildung in unserem Land zu kontrollieren und zu ändern, ohne daß irgend jemand ein Wort dabei mitzureden hatte. Mit einem Gleichgesinnten begann ich, das General Education Board zu
durchleuchten, wer ihm angehörte, was es tat, woher es seine Mittel hatte und wie es arbeitete.
Wir fanden die Aufzeichnung einer großen Kontroverse in der amerikanischen Erziehung und wir verfolgten die Entwicklung einer neuen Erziehungsphilosophie. Zwei Männer schienen besonders zentral: die Psychologen John Dewey und Lee Edward Thorndike. Wer inspirierte ihre Sicht der Erziehung? Wer hatte sie ausgebildet?
Meine Untersuchung führte mich in die Welt der sagenhaft reichen, in die Wurzeln psychologischer Theorie und Praxis, in die Stätten der Bildung und in altpreußische Laboratorien. Sie umfaßte die Studien des Verhaltens von Ratten und Kindern, geheime Konferenzen von Industriegiganten und reichte von Lexington in Kentucky nach Leipzig in Deutsch-Land, von den Schriften Jeffersons zu den Werken Karl Marx'.
Die Spur, die ich verfolgte, korrespondierte ständig mit dem Wachstum und der Entwicklung der experimentellen Psychologie. Um zu verstehen, was der amerikanischen Erziehung zugestoßen war, wurde es nötig, dieses neue Fach und die Leute, die es eingeführt hatten, zu verstehen — von Anfang an
Wilhelm Maximilian Wundt wurde 1832 in einer kleinen süddeutschen Stadt geboren 1). Wundt immatrikulierte an der Tübinger Universität im Alter von 19, wechselte nach einem halben Jahr über nach Heidelberg und promovierte als Doktor der Medizin 1856. Er blieb die folgenden siebzehn Jahre in Heidelberg, fungierte zuerst als Assistent eines Professors und später selbst als Professor der Psychologie. Zu dieser Zeit verstand man unter Psychologie einfach die Lehre {-logie) von der Seele (psych-o), oder des Verstandes 2).
1874 verließ Wundt Heidelberg, um eine Position als Professor der Philosophie in Zürich einzunehmen. Dort blieb er nur ein Jahr und nahm dann einen Lehrstuhl in Philosophie an der Universität Leipzig an. Für den Rest seiner akademischen Karriere blieb er in Leipzig und wurde schließlich Rektor der Universität. Wundt starb 1920.
Soweit die wichtigsten Lebensdaten dieses Mannes. Was sie verschweigen, ist die Tatsache, daß Wundt der Begründer der Experimenentalpsychologie war und die treibende Kraft hinter ihrer Verbreitung in der gesamten westlichen Welt.
Für Wundt war eine Sache nicht sinnvoll und verdiente keine Aufmerksamkeit, wenn sie nicht gemessen, quantifiziert und wissenschaftlich demonstriert werden konnte. Weil er keinen Weg sah, solches mit der menschlichen Seele zu tun, wich er dieser Frage aus und schlug vor, daß Psychologie sich ausschließlich mit Erfahrung statt mit metaphysischen Belangen befasse.
... erscheint es wahrhaft nutzlose Verschwendung von Energie, immer wieder auf zwecklose Diskussionen über die Natur der Seele, die eine Zeitlang in Mode kamen und in der Tat immer noch im Schwange sind, zu kommen, statt vielmehr seine Energien dorthin zu konzentrieren, wo sie reale Ergebnisse hervorbringen. 3).
Mit der Veränderung der traditionellen Definition der Psychologie und ihrer Aufgaben und Funktion versuchte Wundt, diese neue „Wissenschaft" in die Strömung des deutschen Szientismus*) zu bringen. Deutschland war das Zentrum der Zivilisation: Deutschlands wissenschaftliche und technologische Fortschritte waren berühmt. Die Deutschen waren hervorragend in der Anwendung wissenschaftlicher Begriffe und Verfahren auf bis dahin nicht wissenschaftliche Bereiche. An der Universität Berlin hatte Hegel versucht, aus Geschichte ein wissenschaftliches Studium zu machen; er wurde Deutschlands führender Philosoph, dem eine Generation von Studenten nacheiferte.
Karl Marx führte in Hegels Theorien Ökonomie und Soziologie ein und entwickelte eine „Philosophie" des „dialektischen Materialismus". Hebart und Fechner wandten mathematische Prinzipien auf das Lernen an 4); Müller und Helmholtz übertrugen Physiologie auf Verhalten; Fritsch und Hitzig wandten elektrische Stimulation des Gehirns an, um den Zusammenhang zwischen Hirnfunktion und Verhalten zu bestimmen. Während der Revolutionen und Revolten von 1848 in ganz Europa, dem Aufstieg der Sozialistischen internationale und der erzwungenen Vereinigung des Neuen Deutschland eines Otto von Bismarck war Deutschland ein blühendes Zentrum der Kultur und der Wissenschaften. Jede deutsche Universität wirkte magnetisch auf jeden ambitionierten jungen Intellektuellen aus Europa und den Vereinigten Staaten. Leipzig war keine Ausnahme: einer der primären Anziehungspunkte war Wundt.
Kurz nach seiner Ankunft in Leipzig hatte Wundt 1875 das erste psychologische Laboratorium der Welt errichtet. Anfänglich klein und primitiv, weitete es sich schnell auf elf Räume aus. Er komplettierte sein neues Labor mit einem Journal, „Philosophische Studien", welches das offizielle Organ sowohl des neuen Laboratoriums als auch der neuerdings umdefinierten „Wissenschaft" Psychologie wurde. Wundt faßte seine Gesamtabsichten in klare Begriffe:
„Das Werk, das ich hier dem Publikum präsentiere, ist ein Versuch, eine neue Domäne der Wissenschaft zu markieren” 5).
Was hatte Wundt gemacht? im Grunde war es das Unterfangen, Daten über die physiologischen Funktionen und Reaktionen des Individuums zu sammeln um darzulegen, wie ein Individuum Gefühle und Reize erlebt. Es waren menschliche Wahrnehmungen und Erfahrungen, die zählten, und die konnten am besten vom Blickpunkt der quantifizierbaren physiologischen Reaktionen her verstanden werden. Wundt war der Meinung, daß Reaktionen mit Reizen begannen, die gefolgt wurden von (1) Wahrnehmung aufgrund derer das Erlebnis im Individuum existiert, (2) „Apperzeption", durch welche der Körper die Wahrnehmung kombiniert und (3) einem Willensakt, der (4) in einer Reaktion auf den Reiz resultiert. Was war Wille? Für Wundt war der Wille, so wie er entstand, das direkte Resultat aus der Kombination der wahrgenommenen Reize, keineswegs die unabhängige Absicht eines verursachenden Individuums.6). Wundt leistete zwei bedeutende Beiträge zum Sterben der Erziehung im Westen. Der erste war theoretisch. Wundt glaubte, der Mensch entbehre des Geistes und der Selbstbestimmung. Er suchte zu beweisen, daß der Mensch die Summe seiner Erfahrungen sei, der Reize, die in sein Bewußtsein und sein Unbewußtes eindrangen. In der Leitung der Arbeit seiner Studenten konzentrierte er ihre Kräfte auf detaillierte Untersuchungen der Sinneswahrnehmungen in dem Versuch, jeden Aspekt der Aktion und Reaktion zu isolieren und zu quantifizieren. Was bestimmte den Unterschied in den Reaktionszeiten zweier Individuen? Warum kombinierten manche Individuen Reize anders als andere? Welche „Gesetze" der Assoziation, der Ähnlichkeiten und der Unterschiede zwischen Wörtern können aufgestellt werden?
Wundt und seine Studenten hielten solche Fragen für sehr bedeutsam.7).
Als Physiologe gründete Wundt die neue Psychologie als Studium des Hirns und des Zentralnervensystems. Von Wundts Werk war es nur ein kleiner Schritt zur späteren Neu-Definition von Erziehung. Ursprünglich bedeutete Erziehung „das Herausziehen der angeborenen Talente und Fähigkeiten eines Individuums" 8). Für den Experimentalpsychologen wurde Erziehung der Prozess, einem Individuum „bedeutsame" Erfahrungen zu vermitteln, um die richtigen Reaktionen zu garantieren:
. . . Lernen ist die Auswirkung der Verformbarkeit in den Kanälen neuraler Leiter. Erklärungen selbst solcher Formen des Lernens wie Abstraktion und Generalisation verlangen von den Neuronen nur Wachstum, Erregbarkeit, Leitfähigkeit und Modifizierbarkeit. Der Verstand ist das Verbindungssystem des Menschen und Lernen ist der Prozess des Verbindens. Das Situations-Reaktions-Schema reicht aus, um Lernen jeder Art abzudecken; die tatsächlich beeinflussenden Faktoren beim Lernen sind die Bereitschaft der Neuronen, der zeitliche Ablauf, der Zusammenhang und zufriedenstellende Konsequenzen. 9)
Nimmt man an, daß außer einem Körper mit Hirn und Nervensystem nichts vorhanden ist, mit dem man beginnt, muß man die Erziehung versuchen, indem man dieses Nervensystem Reizen aussetzt. Durch die Erfahrung wird das Individuum lernen; es wird auf den richtigen Reiz die angebrachte Reaktion zeigen. Demzufolge ist das Kind beispielsweise nicht fähig zur autonomen Kontrolle seiner Handlungen oder zur Entscheidung, in bestimmter Weise zu handeln oder nicht zu handeln: seine Handlungen sind vor-konditioniert und jenseits seiner Kontrolle, weil es ein Reiz-Reaktions-Mechanismus ist. Das Kind ist Reaktion. Wundts These legte die philosophische Basis für die Prinzipien der Konditionierung, die später von Pavlov und den amerikanischen Verhaltenspsychologen entwickelt worden sind; für Lobotomie und elektrokonvulsivische Therapie; für Schulen, die mehr an der Sozialisierung des Kindes orientiert sind als an der Entwicklung des Intellekts und des Bestandes der Kultur; und für das Wachstum einer Gesellschaft, die sich zunehmend der Befriedigung sensorischer Wünsche auf Kosten von Verantwortlichkeit und Leistung widmet.
Wundts zweiter Beitrag zum Verfall der Bildung war überhaupt nicht theoretisch: er brachte die erste Generation von Forschern, Professoren und Publizisten der neuen Psychologie hervor. Diese Gruppe ging daran, in ganz Europa und den Vereinigten Staaten die Experimentalpsychologie zu etablieren:
Das Leipziger Laboratorium übte durch diese Studenten einen immensen Einfluß auf die Entwicklung der Psychologie aus. Es diente als Modell für die vielen neuen Laboratorien, die im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert aufgebaut wurden. Die vielen Studenten, die vereint in Betrachtung und Absicht in Scharen nach Leipzig kamen, gründeten eine Schule des Verstandes in der Psychologie 10).
Die Liste der Schüler Wundts liest sich wie ein „Who's who" europäischer und amerikanischer Psychologen. In den nachfolgenden Jahren konnte man an nahezu jeder wichtigen europäischen oder amerikanischen Universität die neue Psychologie unter jemanden studieren, der seinen Doktor direkt bei Wundt in Leipzig gemacht hatte 11).
Die jungen Amerikaner, die bei Wundt studierten und in die Heimat zurückgekehrt waren, gründeten in den Vereinigten Staaten Fachabteilungen für Psychologie überall im Land. Als erste Generation Wundtscher Experimental-Psychologen in den Vereinigten Staaten und mit dem Prestige behaftet, an einer großen deutschen Universität studiert zu haben, fanden diese Männer wenig Schwierigkeiten, sich einflußreiche Positionen an wichtigen amerikanischen Universitäten zu sichern. Jeder von ihnen wurde zu einem bemerkenswerten Grad erfolgreich; jeder bildete eine große Zahl, oft hunderte, von Doktoren der Psychologie aus; jeder schrieb Beiträge für neue Journale, Vereinigungen und Publikationen über die neue Lehre — und fast ohne Ausnahme wurde jeder in einem anderen dem Eindringen der Deutschen Psychologie offenliegenden Bereich tätig — dem Bereich der Erziehung.
Der erste amerikanische Student Wundts, der in die Vereinigten Staaten zurückkam, war G. Stanley Hall. Er kehrte 1883 aus Leipzig zurück, um dem Lehrkörper der neu gegründeten John Hopkins Universität beizutreten, welche gerade nach dem Muster der großen deutschen Universitäten in Baltimore errichtet worden war. Hall organisierte das Psychologie-Labor an John Hopkins und gründete 1887 das American Journal of Psychology, mit dem er „Anhängern der Neuen Psychologie nicht nur eine Schatzkammer für Beiträge sowohl experimenteller wie auch theoretischer Art gab, sondern auch ein Gefühl von Solidarität und Unabhängigkeit" 12).
Zwei Jahre danach, als man 1889 in Worcester, Massachussets, die Clark Universität gründete, wurde Hall als ihr erster Präsident erwählt. 1892 spielte er eine führende Rolle bei der Gründung der American Psychological Association. Hall wurde durch seine Studien der Kindesentwicklung, die direkt in die Bewegung der Kindheitsstudien in diesem Land (den USA, d. Ü.) führten, bekannt. 1904 publizierte er sein Meisterwerk, das zweibändige Adolscene: Its Psychology and Its Relation to Physiology, A nthropology, Sociology, Sex, Crirne, Religion and Education 13) (zu Deutsch: Jugend: ihre Psychologie und ihr Verhältnis zu Physiologie, Anthropologie, Soziologie, Sexualität, Kriminalität, Religion und Erziehung. d. Ü.).
Durch die Verschweißung von Experimentalpsychologie und Kindererziehung diente Hall der Förderung der Karriere einer anderen Persönlichkeit, welche einen außergewöhnlich tiefen Einfluß auf den Kurs der amerikanischen Erziehung nahm: John Dewey.
Dewey wurde in Vermont geboren, graduierte an der Universität von Vermont, verbrachte einige Jahre mit der Unterrichtung an einer High School und immatrikulierte an der John Hopkins Universität 14). Er studierte ein Jahr bei Hall, bevor er 1884 sein Doktorat erwarb, woraufhin er einige Jahre an den Universitäten von Michigan und Minnesota unterrichtete. 1886 publizierte Dewey das erste amerikanische Lehrbuch der Neuen Psychologie mit dem Titel Psychologie. Gegen Ende des Jahres 1895 wurde er vom Lehrkörper der von Rockefeller gestifteten Universität von Chicago eingeladen, den Fakultäten Philosophie, Psychologie und Pädagogik vorzustehen. Im gleichen Jahr budgetierte die Universität 1 000,— Dollar für die Errichtung eines Erziehungs-Laboratoriums, in welchem Dewey psychologische Prinzipien und experimentelle Techniken zum Studium des Lernens anwenden konnte. Das Experiment begann im Januar 1896 als „Dewey Schule", die später als „Labor-Schule der Universität Chicago" bekannt wurde.
Für Dewey war diese Schule ein Ort, „an dem seine Theorie der Erziehung in die Praxis umgesetzt, geprüft und wissenschaftlich ausgewertet werden konnte" 15).
Dewey ... suchte die Doktrinen der Erfahrung und des Experiments auf das tägliche Leben anzuwenden und demzufolge auf die Erziehung . . . Durch diese Modelleinrichtung wollte er den Weg für die "Schulen der Zukunft" bereiten. Dort hatte er drei revolutionäre Ansichten, die er aus der Neuen Psychologie geschöpft halte, in die Praxis umgesetzt: um das Kind in den Besitz seiner vollen Talente zu bringen, sollte die Erziehung aktiv statt passiv sein; um das Kind für eine demokratische Gesellschaft vorzubereiten, sollte die Schule sozial statt individualistisch sein; und um das Kind zum kreativen Denken zu befähigen, sollte anstelle des Nachahmens das Experiment gefördert werden 16).
Das war ein scharfer Bruch mit der traditionellen Definition von Erziehung, sie zeigte den Einfluß aus seinen Studien von Hegel. In Dewey's eigenen Worten:
Erziehung besteht entweder in der Fähigkeit, seine Kräfte in einer sozialen Richtung einzusetzen, oder in der Fähigkeit, die Erfahrungen anderer zu teilen und so dai individuelle Bewußtsein zu dem einer Rasse zu erweitern 17) ... das letzte Problem der Erziehung liegt im Ka-Ordinieren der psychologischen und sozialen Faktoren . . . Die Koordination verlangt ., daß das Kind sich selbst ausdrücken kann, aber auf solche Weise, daß soziale Ziele realisiert werden 18).
Deweys wie Halls Absicht war, Psychologie mit Erziehung zu vereinen, und er schaffte das in der Dewey Schule, vermischt mit einer Prise Hegelianischer Sozialgedanken und -praxis 19).
Obwohl Deweys Betrachtungen heute in der großen Mehrzahl amerikanischer Schulen verwirklicht sind, stellten sie um die Jahrhundertwende eine revolutionierende Veränderung dar. Wir sehen hier die Wundtsche Neudefinition von „Erziehung", welche nun bedeutete, einem jungen Gehirn und Nervensystem Experimentaldaten zuzuführen — nicht das Lehren mentaler Fertigkeiten oder das Kultivieren des Intellekts. Das ist das Aufgeben der traditionellen Rolle des Lehrers als Erzieher und ihr Ersatz durch die Betrachtung des Lehrers als einen Führer in der Sozialisierung des Kindes, welche dazu führt, daß jedes Kind sich einem spezifischen Verhalten anpasst, das von ihm erwartet wird, um in der Gruppe durchzukommen 20). Hier wurde die Individualität begraben, die Übung des Genies und Talents, welche ein Individuum dahin führte, daß es über die Gruppe hinauswuchs. Hier ist auch der Ruf nach Nivellierung der individuellen Unterschiede in einem geschlossenen Reservoir von Schülern, die unwissende Subjekte von Lerntechnikern sind, die die soziale Ordnung der Zukunft erdenken und Curricula *) und Methoden willkürlich ändern 21).
Für Dewey wie für Wundt war der Mensch nur ein Tier, allein mit seinen Reaktionen, abhängig von seinen Erfahrungsdaten. Nach Meinung der Professoren Mori und Vincent vom Columbia Teachers College „war John Dewey der kulminierende Theoretiker in drei Jahrhunderten erzieherischer Schriftstellerei" 22). Er glaubte, daß Lernen nur durch Erfahrung erfolgte, daß der Reiz-Reaktions-Mechanismus die Grundlage des Lernens war, und daß Lehrer nicht Instruktoren, sondern Entwickler von Lern-Erfahrung waren 23). Dewey war in der Dewey Schule an der Universität von Chicago und später am Teachers College der Columbia Universität in der Lage, die Verbindung von Psychologie und Erziehung zu fördern und zu vollziehen, und wurde die führende Figur der amerikanischen Erziehung. Doch Dewey, der „Vater der amerikanischen Erziehung", war nur ein Schüler Wundtscher Psychologie und nur eines jener Individuen, die die amerikanische Erziehung kritisch transformierten.
Während Hall die Auszeichnung hatte, Wundts erster amerikanischer Student zu sein, hatte James McKeen Cattell die Ehre, Wundts erster Assistent zu sein und möglicherweise auch der größte Publizist und Förderer der neuen Art Psychologie.
Cattell ist 1860 in Pennsylvanien geboren worden und erwarb 1880 seinen akademischen Grad (Bakkelaureus) am Lafayette College (an dem sein Vater Präsident war). Er verbrachte dann kurze Zeit in Deutschland. wo er mit Wundt zusammentraf und dessen Laboratorium besichtigte. Als er 1883 wieder nach Deutschland kam, reiste Cattell nach Leipzig und erklärte Wundt, daß er des Meisters Assistent werden möchte. Wundt nahm an, Cattell verbrachte die nächsten Jahre in Wundts Laboratorium mit Experimenten und erwarb 1886 seinen Dr. phil. bei Wundt. Cattells primäres Interesse galt den individuellen Unterschieden in den Fähigkeiten und mentalen Tests 24).
Eine Serie von Experimenten, die Cattell in Leipzig durchführte, prüfte die Weise in der ein Mensch die Wörter sieht, die er liest. Indem er Erwachsene, die des Lesens kundig waren, testete, fand er heraus, daß man Wörter erkennen konnte, ohne die Buchstaben in Laute umsetzen zu müssen. Daraus schloß er, daß Wörter nicht aufgrund gegliederter Buchstaben erkannt würden, sondern als „ganzes Wortbild" wahrgenommen würden. Er nahm an, daß wenig gewonnen wäre, wenn man einem Kind als ersten Schritt zum Lesen die Laute und Buchstaben lehrte. Nachdem ein Mensch Wörter schnell erkennen konnte, sollte man Kindern das Lesen lehren, indem man ihnen die Wörter zeigt und ihnen sagt, was die Wörter sind. Das Resultat war das Fallenlassen der phonetischen und alphabetischen Lehrmethode des Lesens und ihr Ersatz durch die Ganzheitsmethode, die in ganz Amerika angewandt wird. Die die ganze Nation betreffenden Auswirkungen aus Cattells Forschung und Schlussfolgerungen, und, später, die Verbreitung dieser Schlußfolgerungen durch das Teachers College der Colurnbia Universität, bilden die Grundlage für den Bestseller von Rudolph Flesh, Why Johnny can’t read 25).
Als Doktor der Psychologie nach den USA zurückgekehrt, las Cattell ein Jahr lang am Bryn Mawr College und an der Universität von Pennsylvanien. 1887 verließ er wieder das Land, um in Cambridge zu lehren, wo er den englischen Psychologen Galten traf, von dem er tief beeindruckt wurde. Galtons Ansicht war, „dass die natürlichen Fähigkeiten der Menschen unter den exakt gleichen Beschränkungen, wie sie für Form und körperliche Merkmale in der gesamten organischen Welt galten, aus der Vererbung stammten" 26). Cattell übernahm Galtons Art, die Eugenik, Auswahlzucht und das Messen der Intelligenzunterschiede zwischen Individuen anzugehen. Cattell wurde später der amerikanische Führer in psychologischen Tests und vollzog 1894 die erste geballte Ladung psychologischer Tests an einer großen Zahl von Menschen, indem er Anfänger und Abschlußklassen der Columbia-Universität testete und damit erzieherische Tests in den USA initiierte.
Nach seiner Rückkehr aus Cambridge wurde Cattell Professor für Psychologie an der Universität von Pennsylvanien —der erste Professor der neuen Wissenschaft auf der ganzen Welt (Wundts Titel war in Philosophie, nicht Psychologie). In Pennsylvanien errichtete er nach dem Muster von Wundts Leipziger Modell eines der ersten psychologischen Laboratorien im Land. 1891 verließ er Pennsylvanien, trat der Fakultät der Columbia Universität als Professor der Psychologie hei und wurde später der Vorstand der psychologischen Abteilung dieser Universität — eine kritische Position für die Vereinigung von Psychologie und Erziehung.
An Columbia glänzte Catteil als Organisator und Publizist. Wie könnte man die neue „Wissenschaft" Experimentalpsychologie fördern? Cattells Antwort war die Schaffung von Publikationen, die Neuigkeiten über das junge Gebiet der Erzieher und Wissenschaftler ins Land trugen. Zuerst begann er 1894 mit einem Journal, The Psychological Review genannt. Dann kaufte er von Alexander Graham Bell die Wochenschrift Science, die später das offizielle Organ der American Association for the Advancement of Science wurde. 1900 gründete er Popular Science Monthly, welches er nach 1915 als Science Monthly publizierte; im gleichen Jahr begann er eine weitere Publikation, die Wochenschrift School and Society (Schule und Gesellschaft, d. Ü.) 27).
Cattell hatte Format in seinem Beruf. Er war einer der ersten Amerikaner, die mit Wundt gearbeitet hatten und er hatte sein Doktorat von einer der großen deutschen Universitäten. Er erstellte eine Reihe wohlbekannter Nachschlagwerke: American Men of Science, Leaders in Education und The Directory of American Scholars. Mit solcherart Publikationen etablierte er die amerikanischen Psychologen im Zentrum der amerikanischen Erziehung, die Führer des neuen Gebietes nahmen ihren Platz als Wissenschaftler, Erzieher und Gelehrte in den Seiten seiner Nachschlagwerke ein.
Während seiner Zeit an Columbia beaufsichtigte er 344 erfolgreiche Kandidaten für den Dr. phil. — mehr, als an jeder anderen Schule der USA habilitierten. 1895 war er Präsident der American Psychological Association und 1900 wurde er der erste Psychologe, der zur Nationalen Akademie der Wissenschaften gewühlt wurde. Obwohl er nie ein Lehrbuch geschrieben hatte und Autor nur weniger Schriften war, publizierte er Experimentalpsychologie breitgefächert, organisierte und förderte seine Kollegen und ihre Errungenschaften und ermöglichte ihnen so ihre Stellungen in den philosophischen und später in den psychologischen Abteilungen der wichtigsten amerikanischen Universitäten überall im Land 28).
Von diesen Kollegen lohnen ein paar der Besprechung, weil sie direkt in Verbindung mit der Fusion Deutscher Psychologie und amerikanischer Erziehung stehen, die vor der Tür stand.
Einer von ihnen war James Mark Baldwin, der bei Wundt studiert hatte, ein Führer der amerikanischen Experimentalpsychologie wurde und auch Redakteur für Canells Psychological Review 29). Ein anderer war Andrew C. Armstrong, Professor der Psychologie an der Wesleyan Universität. Im Aufbau seiner Fakultät im neuen Fach engagierte Armstrong seinen eigenen Schüler, „den begeisterten Experimentator Charles Judd, frisch aus Deutschland mit einem Doktorhut von Wundt" 30). Judd verließ später Wesleyan, um an der Pädagogischen Schule der Universität New York Dozent für Psychologie zu werden, Professor für Psychologie an der Cincinatti Universität, Direktor des Psychologischen Laboratoriums und Dozent für Psychologie an der Yale Universität und, 1900, Direktor der School of Education an der Universität Chicago'' 31).